„Selbst wenn das Geld da war, faulenzen ging nicht“

veröffentlicht am: 28 Sep, 2016

Tobi hat sich mit drei Jugendlichen über ihre Erfahrungen, Perspektiven und Ängste unterhalten. Sie kommen alle aus anderen Orten, haben verschiedene Biographien und machen heute unterschiedliche Sachen. Doch die Probleme sind ähnlich.

38-4_4-16_th_faulengingnicht2Unzählige weite Felder und kleine graue Dörfer ziehen an der Windschutzscheibe vorbei. Schlaglöcher lassen ein rasantes Tempo nicht zu und so haben die Einheimischen genug Zeit, das unbekannte Nummernschild misstrauisch zu beäugen. Die vielen alten und verlassenen Fabrikgelände erklären, wie hier eine der höchsten Arbeitslosenquoten Deutschlands zustande gekommen ist. Der Putz bröckelt von der grünen Fassade des alten Bauernhauses mit der Hausnummer 7, vor dem das Auto hält. Bereits nach dem ersten Klingeln öffnet Rosa die Tür und umarmt mich herzlich. Zu selten sieht sie ihren Bruder, seitdem er „im Westen“ wohnt. Die Sommerferien neigen sich dem Ende zu und sie erzählt, dass sie Angst hat, wieder in die Schule zu gehen. „Die Lehrer fragen, was habt ihr denn alles Schönes gemacht? Und dann erzählen alle, an was für tollen Stränden und in was für Hotels sie waren. Ich kann erzählen, dass ich im Garten oder Kino war. Letztes Jahr waren wir in Spanien“ – ein Lächeln umspielt ihre Lippen – „aber das ging nur, weil wir im Ferienhaus von Mamas Chef gewohnt haben und für die Flüge und so das Angesparte von ihrem neuen Freund aufgebraucht haben. Der bekommt jetzt immerhin den Mindestlohn“, ergänzt sie trocken. „Ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin, aber die anderen Kinder mit armen Eltern sind halt auf der Real- oder Hauptschule gelandet. Auf dem Gymnasium bin ich immer die Außenseiterin. Die nennen mich da sogar manchmal ‚Biotonne‘, weil ich nicht die neusten Markenklamotten habe und nach der Schule kann ich auch nicht mit ihnen ‚shoppen‘ oder nach Erfurt ‚feiern‘ gehen.“

Erstmal weg hier

Rosa will unbedingt auch zu ihrem Bruder „in den Westen auswandern“, das hat ihr auch ihre Psychotherapeutin empfohlen. Letzten Monat hat sie BAöfG beantragt. Sie war schon immer eine der Klassenbesten. „Hier wird früh entschieden, wer auf welche Schulform geht. Das Busgeld muss man ab der 11. selbst zahlen, weil man dann ja ‚freiwillig‘ in die Schule geht. Das sind monatlich 42€ und da bin ich noch gut dran. Aus dem weit entferntesten Dorf muss man 120€ zahlen. Alle drei Monate bekommt man 40% davon zurück, aber erstmal müssen die Eltern ja das Geld haben und das ist bei manchen Familien nicht der Fall. Spätestens die Schulmaterialien könnten sie dann eh nicht mehr zahlen – unser Taschenrechner kostet 140€. Außerdem sind viele darauf angewiesen, dass ihre Kinder zu Hause, im Garten oder im Stall mit anpacken. Meine Mama hat immer all ihr weniges Geld für uns Kinder ausgegeben, so konnte ich aufs Gymnasium gehen. Für besondere Förderung, Kultur oder eben Urlaub war dann nichts mehr da.“

Unsere Eltern sind 1990 beide arbeitslos geworden, mussten unzählige Male umziehen, unser Vater musste vier verschiedene Berufe lernen. „Als ich zehn war, habe ich bei einem Schreibwettbewerb den ersten Platz gemacht und später einmal 7.000€ gewonnen. Meine Eltern haben in der Zeit beide Hartz IV bezogen und da wir als eine Bedarfsgemeinschaft galten, hat uns das Amt das Geld gestrichen und wir mussten von meinen Gewinnen leben. Für mich war das sehr schwer. Alle wussten, dass ich viel Geld gewonnen habe und ich konnte trotzdem nicht großzügig sein. Eigentlich wollte ich ein Fahrrad und neue Sachen haben, aber auch das ging nicht. Ich war damals richtig sauer auf meine Eltern und habe ihnen sehr viele Vorwürfe gemacht, dass sie mein Geld ‚geklaut‘ hätten, nur weil sie selbst nicht in der Lage seien, einen Job zu finden.“ Die Worte überschlagen sich, als sie davon erzählt. Mit rotem Kopf sagt sie, dass ihr mittlerweile klar ist, dass ihr der Staat das Geld geklaut hat und ihre Eltern nicht selbst Schuld an der Arbeitslosigkeit waren. Aber sie fährt fort: „Erzähl das mal einer 10-jährigen! Und ich weiß, dass ich das Geld nie wieder sehen werde, obwohl ich es auch jetzt gebrauchen könnte.“ Ihr BAföG-Antrag wurde nämlich letzte Woche abgelehnt, weil sie jetzt in der 12. Klasse ist und das macht man ja „freiwillig“. Ihr wurde geraten, doch lieber eine Ausbildung zu machen.

Ins Studium durchgeboxt

Julian hingegen hat es schon bis an die Uni geschafft. Trotz abgelehnter Bafög-Anträge. Er schreibt gerade seine Master-Arbeit in Literaturwissenschaften. Julian sagt am Telefon, seine Geschichte sei nicht so spannend und bestimmt nicht die Richtige, um darüber zu schreiben, er sei doch der Beweis dafür, dass man es auch von ganz unten nach oben schaffen kann. Wie seine Zukunft aussieht, weiß er trotzdem nicht. „Eigentlich würde ich gern promovieren, das haben mir auch meine Profs empfohlen. Aber das ist auf jeden Fall an ein Stipendium gekoppelt. Meine Eltern können und wollen das nicht finanzieren. Sie verstehen sowieso nicht, was ich da eigentlich mache. Ich bin der erste aus unserer Familie mit Abitur, meine Eltern haben beide nur einen Hauptschulabschluss. Mein Pa ist Schlosser und meine Ma hat ihr Leben lang gekellnert.“ Julian wird nachdenklicher, ihm scheinen neue Gedanken zu kommen. Er sagt: „Wenn meine Eltern eine Staatsoper leiten würden oder selbst Professoren wären, dann wäre alles viel einfacher. Meinen Eltern fehlen die Erfahrungen und die Connections. Gerade in den Literaturwissenschaften kommst du ohne Kontakte irgendwann nicht mehr weiter. Die Plätze als Lektoren und Kulturjournalisten sind begehrt, da läuft nichts auf dem freien Markt. Oft musst du dich jahrelang bei kleinen Blättern und Verlagen beweisen und dich irgendwie querfinanzieren. Oder deinem Pa gehört halt der Schuppen und er stellt dich einfach ein.“

Julian berichtet davon, dass der Druck immer groß war alles selbstständig auf die Reihe zu bekommen und den Eltern nicht auf der Tasche zu liegen. Dieses Gefühl kannten viele seiner KommilitonInnen aus gutbürgerlichem Elternhaus gar nicht. „Da ist es selbstverständlich, dass man seinem Bub ein gutes Studium finanziert und auch mal den Erholungsurlaub, die Studienfahrt und andere Dinge. Es ist genug Geld da und auch die Eltern gönnen sich solche Dinge ab und an. Für so etwas habe ich von meinen Eltern nie Unterstützung bekommen“, stellt er resigniert fest. „Selbst wenn das Geld da war, ‚Faulenzen‘ ging nicht. Sie mussten ja selbst ihr ganzes Leben hart arbeiten. Das Studium hab ich selbst ausgewählt, da muss ich‘s mir auch selbst finanzieren, sagen sie.“

Dieser Artikel ist aus der aktuellen POSITION, dem Magazin der SDAJ. Du kannst es für 10€ jährlich abonnieren unter position@sdaj.org

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Traumjob Makler, Metzger, Soldat?

In einem Nebensatz erwähnt Julian, dass er bis zum Wechsel aufs Gymnasium nach der 10. Klasse noch nie so richtig ein Buch gelesen hatte. Jetzt studiert er Literaturwissenschaften. „Zu den Büchern bin ich erst durch eine Freundin gekommen. Sie kam aus gutem Elternhaus und Lesen gehörte bei ihnen einfach dazu. Erst da stellte ich fest, dass ich auch später mit Wörtern arbeiten will und wie gern ich lese und schreibe.“ Mittlerweile gehört Julian zu den besten StudentInnen seines Fachbereiches. Ob er ohne die Bücher seiner Freundin diesen Weg eingeschlagen hätte, bleibt ungewiss. „Das Finanzielle ist oft gar nicht das Entscheidende. Klar hat man es schwerer, wenn man nebenbei arbeiten muss, aber viel schwieriger ist es, wenn einem einfach die Erfahrungen fehlen. Wenn man an der Uni erst einmal selbst herausfinden muss, wie das Ganze läuft, sich mit seinen Eltern nicht wirklich darüber unterhalten kann. Und man bekommt ja auch Druck von Zuhause, endlich mal etwas aus sich zu machen und sein eigenes Geld zu verdienen. Das ist bei Eltern, die selbst an der Universität waren anders. Bei Kindern von Profs ist das noch krasser, da machen die Daddys dann einfach untereinander etwas aus.“ Wenn er das Stipendium für die Promotionsstelle nicht bekommt, weiß er noch nicht so genau, was er dann macht. Dann muss er sich wohl etwas suchen, wo man keinen speziellen, sondern nur irgendeinen akademischen Abschluss braucht. „Bei Versicherungsunternehmen geht da wohl was.“

Ortswechsel: Arthur steht an einem Infostand auf einer Kundgebung gegen die die AfD. Er hat das Herz am rechten Fleck, das merkt man sofort, wenn er lächelnd auf die PassantInnen zugeht und ihnen erklärt, warum die wirkliche Alternative für Deutschland nicht „AfD“ heißt. In kleinerer Runde fragt er, was er machen soll. „Nach dem Hauptschulabschluss wollte mich niemand haben, ich bin dann irgendwann bei einem Metzger gelandet. Aber nachdem ich da mal mein Maul aufgerissen habe, wegen den beschissenen Arbeitsbedingungen, konnte ich gehen. Ich hab schon darüber nachgedacht Soldat zu werden, das sind ja die Einzigen, die noch Leute mit Hauptschulabschluss nehmen.“

Weniger zuversichtlich

Drei unterschiedliche Lebensgeschichten. Drei unterschiedliche Standorte im Leben. Aber drei Jugendliche mit Zukunftsängsten und bei allen Dreien spielt die soziale Herkunft eine entscheidende Rolle: „Jugendliche aus der unteren Schicht (46%) sind auch 2015 deutlich weniger zuversichtlich, was die Realisierbarkeit der beruflichen Wünsche angeht, als Jugendliche aus der oberen Schicht (81 %)“ sagt die Shell-Jugendstudie 2015.

Nicht Rosa, Julian und Arthur sind also individuell für ihre Probleme verantwortlich, sondern ihre Klassenzugehörigkeit macht ihnen das Leben schwer. Im reichen Deutschland werden Kinder aus der Arbeiterklasse besonders stark unterdrückt und ausgeschlossen. Das macht wütend und gibt Grund genug zum Kämpfen. Gegen die Ungerechtigkeit. Gegen die Unterdrücker. Gegen die herrschenden Verhältnisse.

Tobi, Gießen

Dieser Artikel erschien in
POSITION #4/2016
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