Das, was man bei uns so Freiheit nennt

veröffentlicht am: 2 Jul, 2023

Freie Zeit, Freizeit & das JZ

„Es versteht sich von selbst, daß die time of labour selbst, dadurch, daß sie auf normales Maß beschränkt, ferner nicht mehr für einen anderen, sondern für mich selbst geschieht, zusammen mit der Aufhebung der sozialen Gegensätze zwischen Master and men etc., als wirklich soziale Arbeit, endlich als Basis der disposable time einen ganz andern, freieren Charakter erhält, und dass die time of labour eines man, der zugleich der man of disposable time ist, viel höhere Qualität besitzen muss als die des Arbeitstiers“, so Marx im Kapital zur Freizeit. Doch nicht nur er – alle reden von Freizeit. Die Konsumindustrie, Urlaubsagenturen, Vergnügungsparks und sonstigen Zerstreuungsangebote im Kapitalismus leben von ihr. Für sie leben außerdem die 99% der Gesellschaft, deren Arbeitsleben aus Stress, Frustration, Anstrengung und allen anderen unschönen Begleiterscheinungen der

Unterordnung unter Chef, Behörden und die anderen Verwalter des kapitalistischen Systems fallen. Grund genug, sich das Phänomen Freizeit und die Frage, warum wir so wenig von ihr haben, einmal ein bisschen genauer anzuschauen.

Was ist Freizeit?

Von Freizeit zu sprechen, lohnt sich nur, wenn man sie im Verhältnis zur Gesamttageszeit versteht. Freizeit ist hier die Zeit, die wirklich frei, sprich: frei von äußeren Notwendigkeiten, selbst gestaltet werden kann. Äußeren Notwendigkeiten unterliege ich beispielsweise auf der Arbeit – wenn ich nicht auftauche und arbeite, dann krieg ich keinen Lohn, kann meine Miete nicht mehr zahlen und so weiter. Äußere Notwendigkeiten begegnen mir aber auch in der Zeit, in der ich nicht arbeite – ich muss Behördengänge erledigen, Einkaufen, Wäsche waschen, schlafen, essen. Das Maß an Zeit, das am Ende übrigbleibt, das ist die eigentliche Freizeit. Gar nichtmal so viel, wenn man drüber nachdenkt. In dieser Zeit wiederum müssen wir ganz schön viele weitere, auch soziale, (Grund-)Bedürfnisse befriedigen: FreundInnen treffen, Daten, Zeug mit der Familie, entspannen, lesen, up-to-date bleiben – kurzum: Wir sind so ziemlich rundum beschäftigt. Wo soll da Zeit bleiben zum sich-Organisieren, sich- Wehren? 

 

Wo ist Freizeit? 

Dazu kommt noch, dass Freizeit zunehmend vereinzelt stattfindet. In einer Statistik von 2006 gaben nur rund 6% der Jugendlichen an, regelmäßig Einrichtungen wie Jugendzentren zu besuchen. Das verwundert nur wenig, ebenso wie das Datum der letzten auffindbaren Statistik zum Thema, wenn man bedenkt, wie viele Jugendzentren in den letzten Jahren, Jahrzehnten dicht gemacht wurden. Ursprünglich waren das keine kirchlichen oder kommunalpädagogischen Einrichtungen, in denen der Bürgermeister alle zwei Jahre ein nettes Foto fürs Lokalschmierblatt machen durfte, um sich den Stempel „Auch für Jugendliche sympathisch“ geben zu lassen, sondern mehrheitlich selbstverwaltete Räumlichkeiten, die von der Lehrlings- und SchülerInnenbewegung der 60er und 70er Jahre erkämpft wurden. Hier fanden politische Treffen, eine gemeinsame, attraktive Freizeitgestaltung, Konzerte, Vernetzung statt. Hier wurde wirklich von und für Jugendliche gearbeitet. Heute wiederum kann man froh sein, wenn man ein paar Kilometer außerhalb des eigenen Dorfs überhaupt eins findet, doch die beiden PädagogInnen, die sich die Stadt gerade noch so leistet, machen den Laden nach gemeinsamem Bastelspaß und Fingermalen um 18 Uhr dicht, in ein paar Monaten vielleicht auch für immer, wenn der SPD-Kämmerer vorne und hinten kein Geld mehr findet oder sich das JuZe nun mal einfach als nicht profitabel erweist. Der vielerorts stattgefundene Übergang aus der Selbstverwaltung in kommunale oder kirchliche Obhut hat diese Zentren aber ohnehin so unattraktiv gemacht, dass niemand mehr ernstlich hingeht. Dem Freibad, das im Sommer beliebter gemeinsamer Treffpunkt war, ergeht es ähnlich. Allein in den letzten 20 Jahren haben 17 % dicht gemacht, Tendenz steigend. Der Grund auch hier ist: Der Staat steckt sein Geld woanders hin, etwa in Subventionen für Großkonzerne, in die Rüstung, in den Rachen seiner Interessenvertreter deutscher Monopolisten in den deutschen Parlamenten. Die Kommunen haben zunehmend kein Geld und das, was da ist, fließt lieber in Subventionspaketen für die Industrie statt ins lokale Freibad. Das macht dann halt dicht, ein weiterer Treffpunkt ist weg. Bleiben noch die Discos, so sie nicht während der Covid-Pandemie weggebrochen sind (in Solingen beispielsweise hat die letzte richtige Disco vor einigen Jahren zugemacht), mit Mindestverzehr und steigenden Eintrittspreisen, und der Park, der zwar während des Lockdowns ein notgedrungenes Revival erlebte, weil der einzige Ort, wo man sich treffen konnte, der jedoch mit den neuen Regeln fürs Ordnungsamt, Nutzungsverordnungen etc. dann leider doch ziemlich unattraktiv wurde. Es kam, wie es kommen musste: Freizeit findet zunehmend vereinzelt statt, Videospiele, Social-Media und Fitnessstudios füllen die entstandene Lücke mit individuellen Zerstreuungsangeboten, die Zeit der Sportvereine, Spieleabende und so weiter scheint vorüber.

 

Das Problem

In der Freizeit trinkt und spielt man ja nicht nur gemeinsam, man tauscht sich auch aus über Stress in Schule und Ausbildung, man lernt sich kennen, man entdeckt gemeinsame Interessen. Diese Punkte finden nun zunehmend nicht mehr statt, es fehlen die Orte und die Zeit dafür. Während die deutschen „Arbeitgeber“ sich dran machen, unter dem Vorwand der „Flexibilisierung“ nach und nach die Regeln für den 8-Stunden-Arbeitstag weiter aufzuweichen und klammheimlich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in die Höhe schrauben, fällt zwar in der Schule immer mehr Unterricht in Ermangelung von LehrerInnen aus, doch das Mehr an freier Zeit, das sich daraus ergibt, muss dann eben genutzt werden, um die Inhalte nachzuholen. Wer keine Zeit hat, der oder die hat eben auch keine Gelegenheit, sich über seine oder ihre Lage klar zu werden. Die Freizeit ist nun mal auch der Zeitraum, in dem Demonstrationen, erweiterte SV-Treffen und auch große Teile der gewerkschaftlichen Vernetzung stattfinden. Die Generaloffensive der Herrschenden gegen die Freizeit ist auch die Generaloffensive gegen die organisierte Arbeiterjugend, denn ohne Vernetzung gibt es keinen Widerstand, ohne Widerstand steigt die Arbeits- und Lernzeit und sinkt die Freizeit. Dieser Teufelskreis dreht sich immer weiter, ihn brechen können aber auch nur wir. Wir haben am Anfang eine Kurzdefinition festgehalten, was eigentlich so als Freizeit zählt. Wir können jetzt festhalten: Wir haben nur und genauso viel Freizeit, wie wir uns von den Herrschenden erkämpfen, und wenn wir mehr davon haben wollen, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie man diese Freizeit sinnvoll nutzen kann, etwa für Kampf um freien Zugang zu Kunst und Kultur, zu attraktiven Freizeitangeboten, für Vernetzung und solidarisch erlebte Freiheit. So heißt es in einem alten Arbeiterlied:

„Wir brauchen deine freie Zeit, die du mit Recht genießt. Denn unsre Gegner schlafen nicht, die haben ein Lachen im Gesicht, wenn du so kleinlaut bist.“

Sinnvoll Freizeit nutzen, das heißt, sie gemeinsam zu nutzen mit den KollegInnen, mit den MitschülerInnen, in der Gewerkschaftsjugend, der SV, in der SDAJ – Zusammenhalt, Spaß, Freizeit, politische Arbeit – all das gestalten wir hier gemeinsam, sinnvoll, nutzbringend, nicht individualistisch und so, dass wir den Herrschenden das Fürchten lehren.

 

Max, Solingen

Gruppenkarte

finde die SDAJ Gruppe in deiner Nähe!

mehr zum Thema

Arbeitszeitverkürzung und die Realität

Arbeitszeitverkürzung und die Realität

Gewerkschaften und die Verkürzung der Arbeitszeit heute Historisch ist das Thema Arbeitszeitverkürzung sehr präsent in den Gewerkschaften. Sei es der Kampf um den 8 Stunden Tag, die 35 Stunden Woche der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie oder der arbeitsfreie...

mehr lesen