Abschieben, Abhören, Aufarbeiten? (POSITION #05/19)

veröffentlicht am: 26 Okt, 2019

Eine Bilanz der Rot-Rot-Grünen-Landesregierung in Thüringen

„Mehr als 25.000 Hartz IV-Sanktionen“ titelte im April die „Thüringer Allgemeine“ und bezog sich damit auf die Anzahl derer, denen in dem ostdeutschen Bundesland 2018 das amtliche Existenzminimum gestrichen wurde. Allerdings sei dies der niedrigste Stand seit 2010, wird am Anfang des Artikels betont. Im Grunde zeigen allein diese Zahlen das ganze Dilemma von Regierungsbeteiligungen sich als links verstehender Parteien. Niemand kann abstreiten, dass weniger Sanktionierte eine positive Sache sind. Aber 25.000 sind immer noch 25.000 zu viel. Und wären sie nicht auch zu viel, wenn es nicht um Sanktionierte, sondern überhaupt um Menschen gehen würde, die unter entwürdigenden Auflagen ein paar Hundert Euro zum Dahinvegetieren bekommen? Vier Jahre einer Regierungskoalition aus LINKE, SPD und Grüne, die sich im Thüringer Landtag auf eine denkbar knappe Mehrheit von einer Stimme stützen konnte, neigen sich dem Ende zu. Wie nach jeder Regierungsbeteiligung der Partei „Die Linke“ weisen die einen auf unzählige Erfolge und Verbesserungen hin – selbstverständlich bei noch vorhandenem Handlungsbedarf – die anderen darauf, dass sich zu wenig geändert hat. Was lässt sich diesmal konkret über die „linken“ Regierungsaktivitäten, immerhin das erste Mal geleitet von einem Ministerpräsidenten der LINKEN, dem gebürtigen Niedersachsen Bodo Ramelow, sagen?

Was hat sich geändert, was nicht?

In Thüringen wurde weiter abgeschoben. 635 Menschen waren es allein im Jahr 2018. Angekündigt wurde den Betroffenen ihre unfreiwillige Ausreise, genauso wie in anderen Bundesländern, nicht mehr. Sie wurden morgens aus dem Bett gerissen, von der Schulbank gezerrt oder in Krankenhäusern festgenommen. Ein Unterschied, auf den von VerteidigerInnen der Regierungsbeteiligung hingewiesen werden könnte, besteht möglicherweise darin, dass sich Ministerpräsident Ramelow und Migrationsminister Lauert (Grüne) der Kritik der Landesärztekammer nach versuchten Abschiebungen von Menschen aus Krankenhäusern angeschlossen haben. Doch drängt sich hier, statt Ausdruck einer wirklichen Veränderung zu sein, nicht vielmehr der Verdacht auf, dass sich besagte Regierungsvertreter bewusst oder unbewusst zu Feigenblättern eines strukturell inhumanen Klassenstaates machen? In Thüringen wurden fortschrittliche Kräfte, von AntifaschistInnen bis KommunistInnen, weiter vom Verfassungsschutz bespitzelt. Statt diese für ihre hervorragenden Beziehungen ins rechte Lager bekannte Institution zumindest auf Landesebene aufzulösen, ist sogar die Einrichtung eines „Gemeinsamen Überwachungszentrums“ zusammen mit vier weiteren ostdeutschen Bundesländern geplant. Dass die Thüringer Landesregierung sich der allgemeinen Verschärfung der Polizeigesetze nicht angeschlossen hat, ist zu begrüßen, angesichts der bereits umfassenden Rechte dieses Repressionsorgans fällt es allerdings schwer dies als Erfolg einzustufen. Klassengewalt war im Freistaat auch in den letzten vier Jahren Alltag.

Aufarbeitung der „SED-Diktatur“

In Thüringen war Antikommunismus weiter Staatsdoktrin. 15 Vorhaben zur „Aufarbeitung des SED-Unrechts“ wurden im Koalitionsvertrag vereinbart, unter anderem universitäre Forschungsstellen zur „SED-Diktatur“ und die systematische Aus- und Fortbildung von LehrerInnen bzgl. des „DDR-Unrechts“. In vielen Bereichen konnten auch „Erfolge“ gemeldet werden, wobei die stellvertretende Fraktionschefin der LINKEN, Katja Mitteldorf, einräumen musste, dass es bei der Weiterbildung der Lehrer in Sachen DDR-Unrecht noch hake. Die Verdammung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden – und damit einer realen Alternative zu Umweltzerstörung, Hartz-IV-Regime und Kriegstreiberei – wurde so vorbildlich vorangetrieben, dass selbst der CDU-Opposition kaum über Phrasen hinausgehende Kritik einfiel. Dass Ramelow die DDR neuerdings – bei aller Betonung, dass sie kein „Rechtsstaat“ (= bürgerlicher Klassenstaat) gewesen sei – nicht mehr „Unrechtsstaat“ nennen möchte, ist angesichts dessen weniger als ein Tropfen auf dem heißen Propagandastein.

Wer sich das Geld bei den Reichen nicht holt…

Eine massenhafte Privatisierung kommunalen Eigentums wie unter der PDS/SPD-Regierung in Berlin fand in Thüringen nicht statt. Stattdessen wurden unter anderem kürzlich 5000 Wohnungseinheiten in Gera zurückgekauft. Auch wurden seit 2015 100 Schulen saniert, wofür das Land 240 Millionen Euro in die Hand nahm. Dass weder durch das eine die Wohnungsprobleme in den Städten noch durch das andere der riesige Sanierungsbedarf an Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen gedeckt wurde, muss nicht extra betont werden. Hinzu kommt, dass die gesamtwirtschaftliche Lage durch relative Stabilität gekennzeichnet war. In der kommenden, sich bereits deutlich abzeichnenden Rezession wird bzw. würden es Ramelow & Co weit schwerer haben, Geld für den Rückkauf von Wohneinheiten, die Sanierung von Straßen oder den Bau von Schulen aufzutreiben. Dass linke Positionen zugunsten eines größeren finanziellen Verteilungsspielraums schon mal dran glauben müssen, zeigte allein die Zustimmung Thüringens zur Privatisierung der Autobahnen im Bundesrat, welche an Fördermittel vom Bund geknüpft war. Wer sich das Geld bei den Reichen nicht holt, muss es halt woanders auftreiben…

Wie könnte es anders aussehen?

Aber sich das Geld bei den Reichen zu holen, Menschen nicht mit Hartz IV und dazugehörigen Sanktionen zu drangsalieren, Linke nicht von rechten Staatsbehörden überwachen zu lassen, keine Menschen aus Häusern, Schulen oder sonstwo abzuschieben, sich der bürgerlichen, antikommunistischen Propaganda zu widersetzen – das ist doch alles auf Landesebene und mit bürgerlichen Koalitionspartnern nicht möglich! So könnte argumentiert werden. Doch wenn das so ist und die strukturellen Machtinstrumente der Herrschenden es derzeit nicht zulassen, in einem kleinen Bundesland mit bürgerlichen Parteien an der Seite die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeiterklasse zu verschieben, dann muss eine sich als links verstehende Partei eben in der Opposition bleiben. Dass „Die Linke“ das jedoch offenbar auch in Zukunft nicht vor hat, stellte sie allein dadurch unter Beweis, dass sie auf eine erneute Aufstellung der kritischen linken Abgeordneten Johanna Scheringer-Wright verzichtet hat. Wer lieber nackte Klassengewalt mehr oder weniger verhüllen will und die fortgesetzte Offensive der Herrschenden, der Banken und Konzerne, lediglich hier und da abzumildern gedenkt – der kann auf kritische Stimmen aus eigenen Reihen sicher gut verzichten.

Daniel, Trier

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Dieser Artikel erschien in
POSITION #5/2019
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