Zwischen Lernstress, Konkurrenz und Selektion

veröffentlicht am: 10 Sep, 2017

Reportage: Wie der Leistungsdruck in der Schule verschärft wird

Das deutsche Schulsystem wird immer stärker nach Kriterien der Effizienz, Effektivität und im Sinne wirtschaftlicher Interessen gestaltet. Durch das achtjährige Gymnasium (kurz: G8) sollen SchülerInnen schneller durch die Schule geschleust werden, schneller zum Abitur kommen und dadurch früher eine Berufsausbildung beginnen. Das bedeutet nicht nur enormen Stress für die Schülerinnen und Schüler, sondern erhöht auch die Selektivität des Schulsystems. Denn der Wechsel von anderen Schularten aufs Gymnasium, der auch vorher schon sehr schwer war, ist dank G8 fast unmöglich geworden. Durch die langesame Umstellung von der Drei- auf die Zweigliedrigkeit wird der elitäre Charakter des Gymnasiums nicht aufgehoben. Diese Entwicklungen tragen also nicht dazu bei, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen.

Hausaufgaben statt Hobbies

Franka* besucht die 11. Klasse eines Gymnasiums in Hessen. Nächstes Jahr wird sie ihr Abi machen. Ihr Jahrgang ist der vorletzte an ihrer Schule, der noch G8 macht. Der Unterschied zu den G9-Klassen ist enorm. „Besonders krass war es in der Mittelstufe“, sagt Franka. „Wir hatten fast jeden Nachmittag Unterricht, zweimal pro Woche sogar bis halb fünf. Das war in der siebten Klasse!“ Trotz langer Schultage gab es einen riesigen Berg an Hausaufgaben, der kaum bewältigbar war. Nicht selten saßen die SchülerInnen abends noch mehrere Stunden daran. Zeit für Hobbies, Freizeit oder Erholung blieb dabei kaum. Viele aus Frankas Freundeskreis haben nach und nach ihre Hobbies aufgeben müssen, um in der Schule durchzukommen. „Richtig hart war auch der Übergang von der Mittel- in die Oberstufe. Da wurde stark selektiert. Von 105 Leuten in der Mittelstufe sind inzwischen noch 80 übrig“, stellt Franka fest. Die Übrigen haben den Sprung nicht geschafft, sind sitzengeblieben oder haben die Schule ganz abgebrochen. Franka führt das eindeutig auf G8 zurück. „In der Oberstufe gibt es klare Vorgaben, was gelernt werden muss. Aber bei G8 ist es gar nicht möglich, die Inhalte für die Oberstufe wirklich gut vorzubereiten. Man schafft den ganzen Stoff nicht“. Einige von Frankas Freundinnen sind aufgrund des Leistungsdrucks in der Schule in psychologischer Behandlung. Und die Klausuren sind teilweise nur zu schaffen, wenn man vorher die Schule schwänzt, um Zeit zum Lernen zu finden. Selbst das reicht oft nicht aus. „Während der Klausuren brechen immer wieder Leute weinend zusammen, haben Blackouts und können nicht weitermachen, weil sie mit dem ganzen Druck nicht zurecht kommen“, sagt Franka.

Krank durch Stress

Julia hat nach zwölf Jahren Schule im Juli ihr Abi in Nürnberg gemacht. Als sie in der siebten Klasse war, wurde in Bayern G8 eingeführt. „Man hat den Unterschied gleich nach den Sommerferien gespürt“, sagt Julia. Der Stress hat von da an kontinuierlich zugenommen. Das erste Jahr G8 war auch das Jahr, in dem die meisten Leute die Schule abgebrochen bzw. gewechselt haben. Immer mehr SchülerInnen haben schlechte Noten geschrieben. „Auch ich hatte plötzlich 5er und 6er in den Klassenarbeiten und konnte mir nicht erklären, warum“, sagt sie. Denn eigentlich war Julia immer eine gute Schülerin gewesen. Diejenigen, die mit dem neuen Stress und Druck nicht zurecht kamen, wurden nicht unterstützt, sondern einfach fallen gelassen. „Man hatte den Eindruck, dass die Überforderung mit der neuen Situation und dem vielen Stress dazu genutzt wurde, zu selektieren“. Für Julia begann die schwierigste Zeit in der Oberstufe. „Da wurde uns ständig nur noch erzählt, dass wir jetzt aufs spätere Leben vorbereitet werden sollen“. Und das hieß konkret: kein Spaß mehr am Lernen, sondern eine klare Orientierung auf Effizienz und Stress. Das sei aber gut so, hieß es. Denn nach der Schule gehe es genau so weiter. Da sei es gut, wenn die SchülerInnen sich möglichst früh dran gewöhnten.

Der Stress hatte auch Auswirkungen auf das Verhältnis der SchülerInnen untereinander. Während vorher noch ein solidarischer Umgang miteinander bestand und man sich mit Informationen und Materialien gegenseitig aushalf, wurden in der Oberstufe alle mehr und mehr zu EinzelkämpferInnen. „Jeder wollte selbst möglichst gut vor den Lehrern da stehen und alle haben nur noch geschaut, wo sie selbst bleiben“. Für Julia selbst bestanden die letzten Schuljahre fast ausschließlich aus Pauken und Büffeln. Besonders in den Wochen vor dem Abi war für kaum etwas Anderes mehr Zeit. Schule und Freizeit standen in einem ständigen Widerspruch zueinander und von Seiten der LehrerInnen wurde den SchülerInnen ständig ein schlechtes Gewissen vermittelt. Wurde man vor lauter Erschöpfung krank, dann wurde man sofort schief angeschaut. Es wurde unterstellt, dass man die Schule schwänzen würde. Auch in diesem Fall konnte man nicht auf Unterstützung hoffen, sondern hatte es noch schwerer, wieder einzusteigen. Um nach dem Abi ihr Wunschstudium beginnen zu können, brauchte Julia einen Notenschnitt von 1,5. Das erhöht den Druck, bei den Prüfungen gut abschneiden zu müssen. Auf der anderen Seite steht immer die Angst, es nicht zu schaffen, keine Zukunftsperspektive zu haben, das Leben nicht hinzubekommen. „Ich habe mir immer wieder überlegt, was passiert, wenn ich den Job später nicht bekomme, wenn ich nicht genug Geld verdienen werde. Man hört ja ständig, dass man studieren soll, weil Ausbildungen immer schlechter angesehen werden“. Diese Gedanken lassen Julia nach wie vor nicht los.

Auf dem Abstellgleis

Solche Zukunftsängste kennt auch Melissa. Seit wenigen Wochen hat sie ihren Realschulabschluss in der Tasche. Der Weg dorthin war alles andere als einfach. Ihre Noten waren nicht so schlecht. Trotzdem wurde ihr in der siebten Klasse nahegelegt, von der Realschule in der baden-württembergischen Kleinstadt Hechingen lieber auf die Hauptschule zu wechseln. Dort sei sie besser aufgehoben. Bis heute weiß sie nicht, warum, denn Unterstützung bekam sie keine, folgte jedoch der Empfehlung. Viele der SchülerInnen in der achten Hauptschulklasse, in die sie wechselte, hatten Probleme zuhause und die Klasse hatte insgesamt einen schlechten Ruf. „Uns wurde ständig gesagt: ‚Aus euch wird sowieso nichts, seid froh wenn ihr überhaupt irgendeine Ausbildung findet. Aber wahrscheinlich bekommt ihr später sowieso alle Hartz IV.‘ Das hat uns noch weniger motiviert“, sagt Melissa.

Nach dem Hauptschulabschluss wechselte sie auf eine Gesamtschule, um dort ihren Realschulabschluss zu machen. Die Klasse hatte einen hohen Anteil an SchülerInnen mit Mitgrationshintergrund. „Die LehrerInnen haben uns ihren Rassismus spüren lassen“. Während sich in den vorherigen Schuljahren niemand darum gekümmert hat, wenn die SchülerInnen schlechte Noten hatten, hieß es im letzten Jahr auf einmal: „Ihr müsst lernen, ihr müsstet das alles schon können, sonst schafft ihr den Abschluss nicht“. Unterstützung haben sie trotzdem nicht bekommen. Teure Nachhilfe außerhalb der Schule konnte sich sowieso niemand leisten. Und so haben Viele aus Melissas Klasse den Realschulabschluss nicht geschafft. „Ich glaube nicht, dass das daran lag, dass die Leute zu dumm sind. Aber uns wurde ja das ganze Jahr gesagt: ‚Ihr schafft es sowieso nicht.‘ Und manche haben es dann wirklich nicht geschafft“.

Angst, nichts zu werden

Druck wurde auch gemacht, wenn es darum ging, wie es nach der Schule weitergehen soll. „Wir hatten ein Fach, da sollten wir Kompetenzen lernen, die man für Bewerbungen und fürs spätere Berufsleben braucht. Dort wurde uns empfohlen, zur Bundeswehr zu gehen, wenn wir sonst nichts finden“. In der Klasse wurde außerdem eine Runde gemacht, in der alle sagen sollten, was sie nach dem Realschulabschluss machen wollen. „Meine Freundin hat gesagt, sie möchte ihr Abitur machen. Unsere Lehrerin hat sie nur ausgelacht und gesagt, dass sie das sowieso nicht schafft“. Melissas Freundin hat sich daraufhin dagegen entschieden, sich auf einer weiterführenden Schule zu bewerben. Und so macht niemand aus Melissas Klasse mit der Schule weiter. Alle haben versucht, Ausbildungsplätze oder Ähnliches zu finden. „Viele haben einfach das Erstbeste genommen. Aus Angst, dass sie sonst nichts fänden. Egal ob der Job zu ihnen passt oder ihnen Spaß macht“, sagt Melissa.

Der immense Druck, den G8 auf SchülerInnen ausübt, steht fast seit Beginn der Reform in der Kritik. Der Widerstand von SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern dagegen wurde vielerorts so groß, dass die Tendenz inzwischen in vielen Bundesländern wieder zurück zu G9 geht. Der Leistungs- und Konkurrenzdruck für die SchülerInnen, egal welcher Schulart, wird bleiben. Denn die Tendenz bleibt, Schulen wie kleine Betriebe zu organisieren, um den Anforderungen des Kapitals nach entsprechenden Arbeitskräften gerecht zu werden.

Roxy, Tübingen

*Franka heißt eigentlich anders. Ihr echter Name ist der Redaktion bekannt

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