Interview: Der Krieg der AKP

veröffentlicht am: 21 Okt, 2015

Max Zirngast ist politischer Aktivist in der marxistischen Organisation TÖP-G, lebt und studiert in Ankara und hat den Terroranschlag vom 10. Oktober in Ankara nur mit viel Glück überlebt.

Was ist am 10. Oktober in Ankara passiert?

Am Samstag den 10.Oktober sollte eine große Demonstration unter dem Motto „Arbeit, Frieden und Demokratie“ stattfinden zu der 4 Gewerkschaftsdachverbände und Berufskammern aufgerufen hatten: die Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK), die Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter (KESK), die Architektenkammer (TMMOB) und die Ärztekammer (TTB). Die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) hat auch sehr stark für die Demonstration mobilisiert und war mit einem großen Kontingent vertreten. Diese Demonstration war gegen die Kriegs- und Unterdrückungspolitik des AKP-Regimes gerichtet.

Der Start der Demo war vor dem Bahnhof in Ankara und danach sollte es einen Marsch geben und eine Abschlusskundgebung auf einem zentralen Platz. Viele Tausende waren wohl schon dort, viele noch auf dem Weg, aber da die Demo ja nie richtig begann, kann ich das schwer einschätzen.

Mein Freund und Genosse Alp Kayserilioglu und ich waren auf dem Weg zum Bahnhof und waren schon spät dran. Unsere GenossInnen waren schon in der Menge, ich hab versucht sie am Telefon zu erreichen, aber teilweise war das Netz wohl tot, teilweise waren sie mit anderen GenossInnen am Telefon, jedenfalls konnte ich sie nicht erreichen. Ich dachte mir aber, gehen wir mal schnell auf den Bahnhofsvorplatz, entweder finden wir sie dort, oder, wenn nicht, dann können wir uns von dort bei den vielen Menschen am Leichtesten orientieren. Jedenfalls gingen wir also recht zügig in diese Richtung und in die Demo hinein, als direkt vor uns, ca. 200 Meter entfernt, mit einem großen Knall und einer Schockwelle eine sicher 10 Meter hohe Feuersäule aufging. Wohlgemerkt, das war geradeaus vor uns, dort wo wir auch vorbeigegangen wären. Es waren zwei Bomben, aber in einem Abstand von maximal 50 Metern und so knapp hintereinander, dass wir uns zuerst nicht sicher waren, ob es eine Bombe war. Da erfahrungsgemäß bei solchen Aktionen oft zwei Bomben gezündet werden, haben wir uns ruhig aber doch zügig von den Menschenmassen entfernt und aus etwas Distanz das weitere Geschehen beobachtet. Erst ein wenig später sind wir dann direkt zum Ort der Explosion, um zu sehen, ob wir helfen können.

Langsam dämmerte es uns und wohl auch den meisten anderen um uns herum, was da gerade passiert war. Die ersten Taxis mit Verwundeten fuhren vorbei. Was dann passierte, war trotz der Situation eindeutig: viel mehr Polizei als Rettungshelfer, die Rettungsfahrzeuge kamen nur langsam und vereinzelt, die Bereitschaftspolizei blockierte den Weg und ließ die Wägen auch nicht immer gleich durch und die Wasserwerfer standen bereit. Auf der anderen Seite der Demo war es noch schlimmer, dort blockierte die Polizei die Rettungswägen wohl für 5 bis 10 Minuten gänzlich, setzte Tränengas und Wasserwerfer ein. Das ist besonders entscheidend, weil auf dieser einen Straße, die am Bahnhof vorbei führt, etwas weiter oben auch eine ganze Reihe von Krankenhäusern sind. Von dort bis zum Ort an dem die Bomben explodierten, kommt man mit dem Auto sehr schnell, 1 Minute höchstens bei freier Fahrt. Da es bei den ganzen Verletzten um Sekunden ging und von den bisher bekannten 128 Toten „nur“ 52 am Ort des Geschehens gestorben sind ist diese Blockade nichts anderes als Mord.

Premierminister Davutoglu hat in kaum zu überbietendem Zynismus vier „verdächtige Organisationen“ genannt, die hinter dem Anschlag stehen könnten – nämlich außer der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ ausgerechnet die kurdische Befreiungsbewegung und die MLKP und die DHKP-C, also zwei linksradikale Organisationen. Wer hatte wirklich ein Interesse an dem Massaker?

Die Reaktionen der AKP-Führungsriege, nicht nur von Davutoglu, waren nichts als blanker Hohn und Verachtung der Opfer. Das braucht man gar nicht mehr ernsthaft zu kommentieren, es genügt diese Aussagen aufzulisten. Der eine sagt, es war zu hundert Prozent die PKK, der nächste meint, dass die HDP das ja schon vor den letzten Wahlen gemacht habe, um über die 10% Wahlhürde zu kommen – dabei bezog sich der Herr Minister Veysel Eroglu auf den Anschlag auf die HDP- Veranstaltung am 5.Juni in Diyarbakir.

Dabei reiht sich das Massaker ein in die Kriegspolitik der AKP, die sie schon vor den Wahlen am 7.Juni betrieben hatte, als es über 200 Angriffe auf die HDP gab inklusive mehrerer Bombenanschläge. Nach den verlorenen Wahlen eskalierte die AKP unter Führung Erdogans und seiner Bande diese Kriegstaktik vollends und entfachte auch den Krieg in Nordkurdistan (der Südosten der Türkei) gegen die PKK wieder. Der Anschlag von Suruc, bei dem 33 linke AktivistInnen ums Leben kamen, die nach Kobane wollten um am Wiederaufbau der vom IS zerstörten Stadt mitzuhelfen, diente dabei lächerlicherweise als Vorwand. Damals war eine IS-Gruppe in der Türkei unmittelbar verantwortlich, aber jeder weiß, dass der türkische Geheimdienst direkt an der Grenze zu Kobane alles überwacht.

Der Krieg der AKP hat mit diesem Anschlag eine neue Dimension erreicht. Die Botschaft ist klar: nun ist niemand mehr sicher, nirgendwo. Es konzentriert sich nicht mehr nur auf Kurdistan, es kann jeden treffen, der gegen die AKP kämpft.

Die Hegemonie der AKP ist mittlerweile vollends zerbrochen. Und die AKP ist keine „normale“ Partei – die Führungsclique, allen voran Erdogan und seine Familie, haben so viele Verbrechen begangen, so viel Geld durch Korruption und dergleichen Methoden angehäuft, und so viele Tote zu verantworten, dass sie nicht einfach ihre Posten abgeben können – es geht für sie um ihr Hab und Gut und eventuell auch Leben. Es darf aber auch nicht unterschätzt werden, dass es immer noch beträchtliche Teile der herrschenden Klasse und der Staatsapparate geben, die so eine Politik auch unterstützen, das darf nicht nur auf Erdogan reduziert werden, auch wenn er – verständlicherweise – das Hauptziel der Wut der Bevölkerung ist. Aus diesem Grund aber, weil es hier „um Alles“ geht, kennen sie auch keine Skrupel mehr. Man braucht sich nur die Erklärung Erdogans und seiner Leute der letzten Monate anhören: „Kampf bis zum letzten Blutstropfen“, usw. Kein Wunder, dass er es kaum noch schafft Krokodilstränen zu vergießen nach einem Massaker wie dem vom 10.Oktober – glauben würde es ihm in der Türkei sowieso kaum jemand.

Was bedeutet es für dich, überlebt zu haben, während über Hundert Mitstreiterinnen und Mitstreiter ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt haben?

Es gibt jetzt kein Zurück, wir sind den Verstorbenen schuldig die Sache weiterzutragen. Der Anschlag galt uns allen. Zwar dürfte sich der Anschlag schon gezielt auf die HDP gerichtet haben und fand in einer Menge mit vielen HDP-Flaggen stand, aber es hätte jeder von uns dort stehen können und es gab viele Opfer von anderen Organisation wie der EMEP, den Halkevleri, einigen Gewerkschaften und sogar der CHP-Jugend.

Es kann nur gelten: jetzt erst recht! Das Regime dieser Mörderbande muss zur Rechenschaft gezogen werden. In der Türkei werden die Mörder und Folterer von linken und demokratischen Kräften traditionell nie zur Verantwortung gezogen, die Staatsstrukturen sind autoritär und anti-demokratisch. Wir müssen den Kampf für echte Demokratie und Revolution intensivieren, damit diese Truppe endlich zur Verantwortung gezogen werden kann.

Gibt es eine Mitverantwortung des deutschen Staates für das Massaker? Worin siehst du angesichts dessen die Aufgaben von KommunistInnen und Revolutionären in Deutschland?

Ich hab geglaubt, ich seh‘ nicht recht, als mir die internationalen Erklärungen zum Massaker untergekommen sind. Das ist ja im Allgemeinen schon immer Gefasel, aber diesmal war es wirklich äußerst absurd. Da rief die EU die Türkei zur „Einheit“ auf und meinte sie stünde der Türkei gegen „Terrorismus“ bei. Obama sagte in etwa dasselbe. Welche Einheit, welcher Terrorismus?? Kondoliert haben sie auch alle Erdogan und Davutoglu. Wer es ernst meint, der soll den Veranstaltern der Demonstration kondolieren und nicht den Mördern. Und Frau Merkel wird sich ja offensichtlich in ein paar Tagen mit Erdogan treffen. Ich bin mir sicher, sie wird ihm ihr Mitleid und ihre Trauer ausdrücken. Ach, wie schön…

Der deutsche Staat, wie die gesamte EU, ist mitverantwortlich. Gerade eben erst haben sie mit dem türkischen Staat einen Deal zur „Abwehr“ der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern beschlossen. Tja, wen kümmert es schon, was dieses Regime gerade im eigenen Land anrichtet. Insbesondere Deutschland ist seit langem, schon seit vor dem ersten Weltkrieg ein verlässlicher Waffenbruder des türkischen Staates und seines Vorgängers. Deutschland assistierte fleißig in der Unterdrückung der kurdischen Befreiungsbewegung und der deutsche Geheimdienst kooperiert eng mit dem türkischen. Dazu werden revolutionäre und demokratische Kräfte auch in Deutschland verfolgt und in ihrer Arbeit behindert.

Internationale Solidarität ist besonders wichtig. Erdogan und das Regime müssen überall bloßgestellt werden. Revolutionäre in Deutschland sollten einerseits gegen schmutzige Deals und Kooperationen mit diesem türkischen Staat kämpfen und andererseits den Kampf auch in Deutschland intensivieren. Politische Organisationsfreiheit türkischer und kurdischer Gruppen in Deutschland hilft unmittelbar auch im Kampf in der Türkei.

Das Interview führte Thanasis Spanidis

Eine gekürzte Version dieses Interviews ist in der Wochenzeitung Unsere Zeit erschienen.

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