Auf’s Abstellgleis gefördert: Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem? Von wegen!

veröffentlicht am: 12 Nov, 2012

„Jeder in Deutschland hat die gleichen Aufstiegschancen“ – so schallt es uns entgegen, wenn bürgerliche Politiker versuchen, ihr elitäres Bildungssystem zu verteidigen. Dass dies extreme Blindheit oder einfach nur eine dreckige Lüge ist, ist nicht schwer herauszufinden: Egal ob man eine bürgerliche Institution wie die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) oder eine proletarische wie ein beliebiges Arbeiterkind fragt – überall bekommt man zu hören, dass der Bildungsabschluss stark an die soziale Lage der Eltern gebunden ist; in Deutschland sogar noch mehr als in anderen europäischen Ländern.

Fakt 1: Geld entscheidet

„20% der jungen Erwachsenen erreichen in Deutschland ein höheres Bildungsniveau als ihre Eltern, wesentlich weniger als im OECD-Durchschnitt (37%). 22% der jungen Erwachsenen beenden ihre Ausbildung mit einem niedrigeren Bildungsabschluss als ihre Eltern, mehr als im OECD-Durchschnitt (13%).“ (OECD-Indikatoren für Deutschland, 11.09.2012). Das heißt, dass ein besserer Bildungsabschluss im Vergleich zu den eigenen Eltern und damit eng verbunden ein sozialer Aufstieg in Deutschland sehr viel schwieriger ist als in den restlichen OECD-Ländern. Zugleich ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass in Deutschland ein geringerer Bildungsabschluss und daraus folgend sozialer Abstieg die Regel sein wird. Was zählt, ist der Geldbeutel deiner Eltern: Sag mir, wessen Kind du bist, und ich sage dir, welchen Bildungsabschluss du erzielen wirst. Das sieht zum Beispel so aus: Pierre und Lisa besuchen beide den 8. Jahrgang eines Gymnasiums. Weder Pierre noch Lisa sind gut in Mathe, beide stehen auf einer 5. Pierres Eltern, beide Rechtsanwälte, finanzieren ihrem Sohn jedoch professionelle Nachhilfe. Er kann sich über Wasser halten und rutscht durch regelmäßiges Training auf eine stabile 3. Lisas Eltern haben dafür nicht die nötige Kohle, seitdem ihr Vater zwangsweise Kurzarbeit verrichten muss. Entsprechend schafft sie es nicht, ihre 5 wegzubekommen und wechselt gegen Ende des Schuljahres auf eine Realschule.

Fakt 2: Migranten benachteiligt

Ca. 58,2% aller MigrantInnen haben keinen oder einen Hauptschulabschluss, während es bei Personen ohne Migrationshintergrund „nur“ ca. 29,6% sind. Dagegen erreichen 28,3% aller Deutschen ihren Abiturabschluss, während es bei MigrantInnen nur 10,9% sind (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). In meinem Schuljahrgang haben 86 Personen ihr Abitur erfolgreich bestanden, darunter waren lediglich 6 MigrantInnen. Umgekehrte Welt auf der Hauptschule: Hier sehen wir schnell, dass jeder zweite migrantischen Ursprungs ist. Die Hauptschule ist nichts als ein Abstellgleis, auf die die Herrschenden die abschieben, die für die Unternehmer nicht verwertbar sind.

Fakt 3: Öfter arbeitslos

42,2% der Arbeitslosen sind Personen mit Hauptschulabschluss, bei Personen mit Realschulabschluss liegt die Quote bei 27,9%, während Abiturienten „nur“ einen Anteil von 8,6% haben (Arbeiterkind.de). Der spätere Erfolg im Beruf hängt stark vom erzielten Bildungsabschluss ab. Arbeitslosigkeit ist für HauptschulabgängerInnen quasi schon vorprogrammiert. Viele KapitalistInnen schauen sich Bewerbungsunterlagen gar nicht erst vollständig an, wenn das Zeugnis die Mittlere Reife nicht übersteigt. Das bekommt Aykut zu spüren: Trotz eines sehr guten Hauptschulabschlusses ist er arbeitslos. Perspektive auf einen Ausbildungsvertrag: Geht gegen Null. „Den Betrieben ist es scheißegal, ob ich ein gutes Zeugnis habe oder nicht. Die sehen nur, dass es ein Hauptschulabschluss ist, und schmeißen die komplette Bewerbung darauf in den Mülleimers.“

Fakt 4: Gut gefördert

Bei Studenten aus armen Elternhäusern macht die staatliche Förderung 57 % des verfügbaren Einkommens aus – bei Studenten aus reichen Elternhäusern 55 % (taz.de). Das bedeutet: Es gibt gar keine besondere staatliche Bildungsförderung für Studierende aus sozial schwächeren Schichten: Der deutsche Staat fördert alle gleich, ohne Rücksicht auf die finanzielle Situation der Eltern, was eine Förderung für Reiche ermöglicht. Dass die Bundesrepublik ein Sozialstaat für die Schwachen der Gesellschaft sei, erweist sich wieder mal als Lüge. Franzi kann ein Lied davon singen. Im Wintersemester 2011/12 hat sie mit ihrem Medizin-Studium begonnen. Der Stoff erweist sich als zu umfangreich, um nebenher jobben zu gehen. Gleichzeitig ist ihre Mutter schwer erkrankt und musste ihre Berufstätigkeit aussetzen – mit all den finanziellen Konsequenzen, die dies mit sich bringt. Nachdem sie ein Urlaubssemester angesetzt hat, um ihr Konto auf Vorrat aufzufüllen, erfährt sie, dass ihr Kommilitone Sebastian (beide Eltern als Zahnärzte voll berufstätig) trotz keinerlei finanzieller Engpässe die Zusage für ein staatliches Stipendium bekommen hat.

Was leisten

Ob du in unserer Gesellschaft aufsteigst oder nicht, hat nur wenig mit Begabung oder Leistung zu tun. Zuerst einmal hängt es davon ab, ob dir deine Eltern die nötigen Voraussetzungen mitgeben, um in unserem Bildungssystem etwas zu werden: Geld für Nachhilfe und ein eigenes Zimmer mit Schreibtisch, ein gut gefülltes Bücherregal. Dazu gehört aber auch die Fähigkeit, bei den Hausaufgaben zu helfen oder ob jemand schon im Elternhaus ein gepflegtes Hochdeutsch spricht. Tatsache ist: Von den Herrschenden bekommen wir genau die Bildung, die wir brauchen, um als Arbeitskräfte verwendbar zu sein – kein bisschen mehr. Wenn wir eine umfassende und gute Bildung wollen, müssen dafür kämpfen.

Jonathan, Marburg

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