Deutschland als Schlachtfeld – POSITION im Gespräch mit Lühr Henken

veröffentlicht am: 23 Apr., 2025

Lühr Henken ist Ko-Sprecher des Bundesausschuss Friedensratschlag, arbeitet in der Berliner Friedenskoordination mit und gehört zum Personenbündnis „Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder“, der den Berliner Appell initiiert hat.

Der Friedensratschlag findet seit 1993 jährlich in Kassel statt. Er führt Friedensbewegung und Wissenschaft zusammen, um über die Konflikte der Welt zu informieren und zu beraten, was gegen Kriege, für Völkerverständigung und Abrüstung getan werden muss. Der letzte Ratschlag am 30.11/1.12.24 war mit über 500 Teilnehmer:innen der bisher meistbesuchte.

POSITION: Die Stationierung der Mittelstreckenraketen wird mit der Abschreckung gegenüber Russland gerechtfertigt. Putin bedrohe Westeuropa und stehe quasi schon kurz vor Berlin. Pistorius spricht von einer „ernstzunehmenden Fähigkeitslücke“, die es zu schließen gelte, immerhin hätte Russland selbst nuklear bestückbare Kurzstreckenraketen. Russland hat – wenn es nach der NATO geht – die alleinige Schuld. Was hältst du von dieser Erzählung?

Lühr: Im November 2023 entstand im Hause des deutschen Thinktanks DGAP die kühne Behauptung, Russland würde nach dem Ende des Ukrainekriegs seine Streitkräfte sehr schnell wieder aufbauen, und sei in sechs bis zehn Jahren in der Lage, NATO-Staaten – vorzugsweise im Baltikum –  anzugreifen. Belege dafür gibts  bis heute nicht. Die Bundeswehr müsse folglich massiv aufgerüstet werden, um Russland von einem solchen Vorhaben abzuschrecken. Pistorius machte im letzten Juni daraus, „wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ Dabei besagen die militärischen Kräfteverhältnisse in Europa (ohne die US-Truppen außerhalb Europas) etwas ganz anderes: Beim Verhältnis der kampfentscheidenden Großwaffen Kampfpanzer, Gepanzerte Transportfahrzeuge und Artilleriesysteme besteht das Übergewicht der europäischen NATO-Staaten 3:1 und bei Kampfflugzeugen 2:1 gegenüber Russland. Da wäre für Russland kein Durchkommen. Zumal im Krieg die Faustregel gilt, dass der Angreifer mindestens über die dreifache Überlegenheit verfügen muss wie der Verteidiger. Russland könnte durch Aufrüstung die dafür notwendige Überlegenheit selbst dann nicht erreichen, wenn die NATO ihre Aufrüstung einstellen würde.

Russland verfügt über Kurzstreckenraketen (Reichweite unter 500 km), die von Kaliningrad bis kurz vor Berlin schießen könnten. Die drei neuen US-Waffentypen, die ab 2026 nach Deutschland kommen sollen, haben maximale Reichweiten zwischen 1.600 und 3.700 km. Eine westliche Fähigkeitslücke ist hier nicht zu entdecken, zumal die NATO-Staaten allein in Europa über 3.300 luftgestützte und über hunderte seegestützte Marschflugkörper verfügen, die Kaliningrad treffen können.

Die US-Mittelstreckenraketen sollen „nur“ zeitweise auf deutschem Boden stationiert werden, weil Europa in 5-7 Jahren eigene entwickelt haben wird. Wie spielt diese Aufrüstung in die Frontstellung gegen Russland und China hinein und welche Rolle spielt Deutschland dabei?

Lühr: Den von Deutschland aus gegen Russland gerichteten US-Mittelstreckenwaffen kommen unterschiedliche Funktionen zu. Sie bedrohen russische Frühwarnradaranlagen, strategische Flughäfen, Silos mit Interkontinentalraketen, Kommandostellen etc.. Die präzisen – und nicht abfangbaren – Hyperschallraketen Dark Eagle sind zusätzlich in der Lage, die politische Führung Russlands zu enthaupten. Dark Eagle sollen auch gegen China aufgestellt werden. Dieses aggressive US-Vorgehen ist in einem weltumspannenden Konzept der Multi-Domain-Operations (MDO) zugrunde gelegt, dass seit 2017 schrittweise umgesetzt wird, um Russland und China in einen ständigen Alarmzustand zu versetzen. Das ist brandgefährlich, weil das zu Präventivschlägen auf Deutschland oder zu Fehlinterpretationen führen kann.

Ich lese die Erklärung von Biden und Scholz anders: Die zeitweise Stationierung bezieht sich darauf, dass der Transport der Mittelstreckenwaffen geübt wird, danach wird dauerhaft stationiert. Die Aufstellung „europäischer“ bodengestützter Marschflugkörper mit Reichweiten jenseits von 2.000 km frühestens ab 2031 ist auf Dauer vorgesehen. In beiden Fällen wäre Deutschland das Schlachtfeld.

Dieser Beschluss erinnert an den NATO-Doppelbeschluss von 1979, als Pershing 2 (nukleare Mittelstreckenraketen der USA) in Europa stationiert wurden. Gerade in Deutschland löste die Angst vor einem Atomkrieg breite Proteste aus. Wie sah der Widerstand damals aus und was wurde durch die breiten Demonstrationen erreicht?

Lühr: Es gibt große Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zu damals. Damals wie heute zielten die Raketen strategisch auf die politische Führung der Sowjetunion/Russland. Sie waren und sind als Enthauptungsschlagwaffen konzipiert. Der Unterschied zu damals ist, heute benötigt man dafür keinen atomaren Sprengkopf, sondern nur einen konventionellen, weil dieser so präzise trifft und nicht abfangbar ist. Die Gefahr des Atomkriegs ist vor allem in extrem spannungsgeladener Situation damals wie heute völlig gleich. Ein wichtiger Unterschied: damals knüpfte die NATO den Stationierungsbeschluss an ein Verhandlungsergebnis. Sie wollte auf Pershing II und Cruise Missiles verzichten, wenn die Sowjetunion ihre  SS-20 abrüstet. Heute gibt es von deutsch-amerikanischer Seite kein Verhandlungsangebot.

Mit einer solchen Widerstandwelle konnte man damals nicht rechnen Die Friedensbewegung war anfangs sehr schwach. Nach dem NATO-Gipfel am 12.12.79, der den Doppelbeschluss fasste, wurde die Zeit gut genutzt und binnen eines Jahres ein Appell formuliert, der die US-Mittelstreckenwaffen ablehnte. Der Krefelder Appell erfuhr binnen vier Jahren die Unterstützung von etwa vier Millionen Einwohnern. Die dazu nötigen millionenfachen Gespräche mit Menschen auf der Straße führten zum Anwachsen von Demonstrationen, die jeweils Hunderttausende auf Plätze und Märkte trieb. Trotzdem konnte die Stationierung nicht verhindert werden. Die Bundesregierung unter Kohl und die Parlamentsmehrheit setzten sich über die Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung hinweg.

Welche Anknüpfungspunkte siehst du für die Friedensbewegung für die Arbeit mit den Gewerkschaften und warum wäre diese Verknüpfung wichtig?

Lühr: Die Orientierung auf die organisierten Werktätigen ist von zentraler Bedeutung, um den Stationierungsbeschluss politisch zu vereiteln. Was die Aufrüstung der Bundeswehr und die immensen Geldausgaben dafür betrifft, gibt es bei Ver.di und der IG Metall und auch der GEW Beschlusslagen, die das Zwei-Prozent-Ziel ablehnen. Neuerdings soll es um 3 oder 3,5 oder gar um 5 Prozent gehen, was die Kolleg:innen noch mehr auf die Palme bringen müsste. Bei der Ablehnung der Raketenstationierung stehen wir noch am Anfang: Die GEW in Berlin und Hamburg haben einen entsprechenden Beschluss gefasst. Es gibt auch DGB-Kreisverbände, die unterstützen. Wichtig ist, dass die Vernetzung der Ver.di-, GEW- und IG-Metall-Kolleg:innen vorankommt, um die Unterstützung des Berliner Appells zu erweitern.

Wie können wir jetzt gegen die Stationierung der Mittelstreckenraketen in Deutschland aktiv werden und welche Rolle spielt der Berliner Appell?

Lühr: Wir müssen eine Menge tun. Das Wichtigste ist: Den Appell bekannt machen, wo wir nur können. Das bedeutet, unter ihn Unterschriften sammeln, wo man kann, im Freundes- und Bekanntenkreis, in Schulen, Betrieben und auf der Straße. Wichtig ist das Gespräch über die drohende Atomkriegsgefahr. Kontakte im Bereich Social-Media sollten dafür auch genutzt werden. Die nächste Demonstration ist in Wiesbaden am 29. März, dem Ort, wo die Kommandozentrale für die US-Raketen ist. Für die Teilnahme wird bundesweit geworben.

Das Interview führte Steffi, Hannover

Gruppenkarte

finde die SDAJ Gruppe in deiner Nähe!

mehr zum Thema

Dark Romance

Dark Romance

Dicke Taschenbücher deren schwarz-pinke Cover geziert werden von Blumenranken und Totenköpfen, meist sogar mit hübschen Farbschnitten. Sie zieren nicht nur die Bücherregale der großen Buchhandelsketten, in dafür eigens eingerichteten Abteilungen, sondern werden auch...

mehr lesen