Majestätsbeleidigung

veröffentlicht am: 24 Jun, 2016

Die Böhmermann-Affäre: Wo endet die Redefreiheit?

In Jan Böhmermanns Sendung „Neo Magazin Royal“ läuft alles normal, bis die Fahne und der Präsident der Türkei im Hintergrund eingeblendet werden. Kurz vorher sorgte die Satire-Sendung Extra 3 mit ihrem Song „Erdowie, Erdowo, Erdowann“ für Furore. Die Türkei forderte, diesen aus der Mediathek zu löschen. Böhmermann erklärt vor dem Hintergrund dieses Streits wie das mit der Meinungs- und Kunstfreiheit ist. „Satire, Kunst und Spaß“, wie der Song von Extra 3, sind erlaubt, „Beleidigung“, z.B. durch ein Schmähgedicht, verboten. Was das ist, wolle er an einem Beispiel erläutern und trägt das Schmähgedicht, über dessen Inhalt und Geschmack man streiten kann, vor: darin wird Erdoğan auf stumpfe Art und Weise und mit rassistischen Vorurteilen persönlich beleidigt. Zur Erinnerung: Das Gedicht wurde mit Ansage vorgetragen – und mit diesem Vorspann zusammen sollte man es auch beurteilen – um die Grenzen von Meinungs- und Kunstfreiheit auszutesten. Wo diese Grenzen gezogen werden, bekommt der Moderator schnell zu spüren.

Photos © Jonas Rogowski / Wikimedia

Photos © Jonas Rogowski / Wikimedia

Kunst- und Meinungsfreiheit?
Erdoğan beantragt Strafverfolgung bei der deutschen Staatsanwaltschaft. Schließlich sei das Schmähgedicht, wie sein Stellvertreter feststellt, ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Mit seinem Anwalt, der schon einen britischen Holocaust-Leugner und den rechten Hetzer Jürgen Elsässer verteidigt hat, stellt er zwei Anträge. Einen nach § 185 StGB als Zivilperson, die beleidigt wurde. Das darf jeder. Doch für Oberhäupter von Staaten, die diplomatische Beziehungen mit Deutschland unterhalten, gibt es aus alten Kaiserzeiten noch ein Extra-Recht. Daher stellt er einen zweiten Antrag auf Grundlage von § 103 StGB, dem Majestätsbeleidigung-Paragraphen. Damit der angewendet werden kann, muss die Bundesregierung zustimmen. Die beschließt, den Paragraphen abzuschaffen – aber erst nachdem er nochmal gegen Böhmermann angewandt wurde. Dabei hatte Böhmermann extra noch beim Kanzleramt um Hilfe gebettelt. Die darauf folgenden Reaktionen reichen von inhaltlicher Kritik am Gedicht über Solidaritätserklärungen bis hin zu Morddrohungen durch türkische Faschisten. Böhmermann steht im Mittelpunkt. Dabei geht es gar nicht um ihn und noch weniger, wie es einige Politiker behaupten, um „europäische Werte“, die es gegenüber dem bösen Diktator Erdoğan zu verteidigen gelte.

Geschmacklos!
Stattdessen zeigen der Fall und Merkels Reaktion, wie die Redefreiheit im Interesse der Herrschenden beliebig ausgelegt wird. Für die Bundesregierung steht die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland, aktuell besonders wegen dem „Flüchtlingsdeal“ und der bröckelnden deutschen Vormachtstellung in Europa, im Fokus. Da will sie es sich nicht mit Ankara verscherzen – denn die Türkei soll möglichst viele Flüchtlinge von der EU fernhalten. Heute kommt kaum noch jemand in Deutschland an, dafür sterben täglich hunderte Menschen auf der Flucht. Deutsche Waffen werden weiter in Krisengebiete geliefert und Kriege im Interesse imperialistischer Staaten geführt. Böhmermann muss wegen einer Geschmacklosigkeit vor Gericht. Merkel und Erdoğan, die mitschuldig sind am Tod tausender Flüchtlinge, bleiben straffrei. Diese Zustände als geschmacklos zu bezeichnen, wäre untertrieben.

Jens, Nürnberg

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Dieser Artikel erschien in
POSITION #3/2016
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