Ein großes Gefängis

Mauer, Stasi, alles grau – so sollen wir die DDR sehen. Was ist dran am verordneten Geschichtsbild?

„Und an der Stelle kann man Schülern dann immer gut sagen: Die Schokolade in der DDR hat furchtbar geschmeckt, die hatten ja keinen echten Kakao. Da kann man dann auch gut dran zeigen, was Mangelwirtschaft bedeutet.“ Auf der Suche nach Applaus blickt die Dame mit den Locken in die Runde der angehenden Lehrer, die sie hier gerade durch das Bonner „Haus der Geschichte“ führt. Und sie wartet nicht vergeblich, es wird gelacht. Immerhin sollen diese jungen Leute hier später selbst SchülerInnen unterrichten, gut also, wenn sie bereits verstanden haben, wie über die DDR zu denken ist. Immer wieder wird öffentlich darüber geklagt,dass Jugendliche zu wenig über die DDR wissen, oder – was für die, die sich darüber beschweren wohl noch schlimmer ist – ein „zu positives“ Bild von der DDR haben. Dagegen wird einiges aufgeboten. Zum Beispiel ein Comic über die DDR, gestaltet ganz in Grau: „Grau ist ’ne inhaltliche Aussage und das spiegelt ja eigentlich auch die Lebenswelt der Bürger“, so die Autoren. Ein graues Land mit mieser Schokolade also. Und was noch?

Unsere Meinungsfreiheit

„Über die DDR haben wir in der Schule eigentlich nur gehört: Mangelwirtschaft, Mauer, Stasi. Mehr kam da nicht“, erinnert sich Andrea an ihren Geschichtsunterricht. Ihr war das zu einseitig, also hat sie nachgefragt und darüber Ärger mit der Lehrerin bekommen. „Sie hat gesagt: ‚In der DDR durfte niemand seine Meinung sagen oder er wurde weggesperrt oder erschossen‘, alles ohne Beweise, alles nur Behauptungen, und wir sollten das eben einfach so hinnehmen. Das wollte ich nicht, da hab ich dagegen gehalten und wurde aus dem Klassenraum geworfen.“ Im Sozialkundeunterricht wurde es nicht anders: „Da haben wir mal Marktwirtschaft und Planwirtschaft behandelt. Der Arbeitsauftrag war: ‚Diskutiert, warum die Planwirtschaft der Marktwirtschaft unterlegen ist.‘“ Im Schulunterricht scheint die Sache also denkbar einfach: BRD – Wirtschaftswunder und gelungene Demokratie, DDR – Mangel und Stasi. Dass die DDR und das Leben in ihr vor allem negativ dargestellt werden, erleben viele SchülerInnen so. Und auch wenn sich LehrerInnen um Objektivität bemühen, die Unterrichtsmaterialien tun es nicht: „Tatsächlich aber führt die Zentralverwaltungswirtschaft dazu, dass es allen gleich schlecht geht – denn sie ist vor allem durch eines geprägt: den Mangel“, heißt es beispielsweise in einem Arbeitsblatt zu Wirtschaftsordnungen, das die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zur Verfügung stellt.

Pflichtprogramm

Katha, die jetzt in Leipzig lebt, erzählt von ihren Schulerfahrungen im Westen: „In der Oberstufe haben sie uns auf der Klassenfahrt gesagt: Das DDR-Museum in Berlin besuchen wir nicht, weil es zu unwissenschaftlich ist. Allerdings waren wir in der Unterstufe schon da. Also für Kinder ist es ok, in ein völlig einseitiges und plattes Museum zu gehen? “ Der Erfolg des Besuchs: „Ich weiß noch, das Gefühl, das ich da bekommen habe, war ganz klar: die DDR, das war der zweite Faschismus.“ Zweiter Faschismus wird die DDR bislang zwar noch nicht genannt, wohl aber „zweite deutsche Diktatur“. Zum Beispiel in der Selbstbeschreibung der Gedenkstätte Hohenschönhausen, einer ehemaligen Haftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit, also der Stasi: „In dem ehemaligen Gefängnis können sich junge Leute auf anschauliche Weise mit der SED-Diktatur auseinandersetzen.“ Hohenschönhausen ist für die Geschichtsschreibung und –vermittlung in der Bundesrepublik das Symbol für die DDR: ein großes Gefängnis. Die Gedenkstätte wird von etwa 150.000 SchülerInnen im Jahr besucht.

Ziemlich sicher so ähnlich

Auch Katha hat erfahren, wie die anschauliche Auseinandersetzung mit der DDR dort aussieht, denn ein Besuch in Hohenschönhausen war der Ersatz für das DDR-Museum auf ihrer Oberstufenfahrt: „Alles war total emotional aufbereitet. Normalerweise soll man auch von ehemaligen Häftlingen durch die Gedenkstätte geführt werden, bei uns war es aber eine ganz junge Frau, die selbst gar nicht in der DDR gelebt hat. In einer Zelle sollten wir uns dann mal für eine Zeit lang ganz aufrecht hinstellen, um nachzufühlen, wie das für die Häftlinge gewesen ist, die das dort stundenlang machen mussten.“ Den Stasi-Knast mit allen Sinnen erleben. Dass Hohenschönhausen die wissenschaftlichere Alternative zum DDR-Museum sein soll, haben auch viele andere in Kathas Klasse nicht so empfunden. „Es gibt da im Keller solche Zellen, die angeblich mal für Wasserfolter benutzt wurden, dazu hat die Führerin gesagt: ‚Eigentlich haben wir das hier nur nachgestellt, aber wir sind ziemlich sicher, dass es so gewesen ist‘, das ist schon vielen in der Klasse komisch vorgekommen.“ Forscht man weiter, stößt man darauf, dass die Zellen erst in den Neunzigerjahren beim Aufbau der Gedenkstätte in den Keller eingebaut wurden. Als Grundlage für die Rekonstruktion werden dabei die Aussage, bzw. die Skizzen eines einzigen Zeitzeugen angegeben, der 1947 als Häftling am Bau solcher Zellen beteiligt gewesen sein will, manchmal aber auch das nicht. Dann wird behauptet, die nachgebauten Zellen seien nach Erinnerungen verschiedener Häftlinge entstanden, die dort eingesessen hätten, wobei Führer durch die Gedenkstätte ebenfalls behaupten, die dort praktizierte Folter hätte niemand überlebt und darum seien keine Zeitzeugen dazu aufzutreiben. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Zellen für die Stehfolter, die Katha, genau wie viele andere BesucherInnen, nachstellen sollte. Jahrelang wurde als eine solche Zelle ein enger Durchgang präsentiert, der zu einem Lagerraum führte. Eine wirklich nachweisbare Stehfolterzelle gibt es allerdings nicht. Wissenschaftlichkeit steht aber in Hohenschönhausen nicht im Vordergrund. Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte, erklärte bei seinem Amtsantritt, er wolle, was seine Bedeutung für die „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ angeht, aus Hohenschönhausen das „Dachau des Kommunismus“ machen. Die Wortwahl ist kein Zufall. Vor der Gedenkstätte ist ein Eisenbahnwaggon zu besichtigen, der zum Antransport von Häftlingen genutzt worden sein soll. Den Waggon hat Knabe hierherbringen lassen, er steht auf einem kurzen Stück Schiene, das keine Verbindung zum Eisenbahnnetz hat und auch nie hatte. Aber egal, ob historisch korrekt oder nicht, viele BesucherInnen werden die so geschaffene Szene mit einer anderen assoziieren: der Rampe vor dem faschistischen Vernichtungslager Auschwitz. Ein drastisches Mittel, das aber das grundlegende Ziel der Gedenkstätte zum Ausdruck bringt: die Verteufelung der DDR mit allen Mitteln, auch durch die Gleichsetzung mit dem Faschismus.

Akten und Leichen

Wenn die DDR mit dem Dritten Reich gleichgesetzt wird, nennt das der Freiburger Historiker Ulrich Herbert eine „Gleichsetzung von Aktenbergen mit Leichenbergen“. Die Aktenberge der Stasi und die Leichenberge von Auschwitz auf eine Stufe zu stellen, das ist auch eine furchtbare Relativierung des faschistischen Massenmordes. Aber diese Gleichsetzung setzt sich fest, und damit wird in der Öffentlichkeit etwas erreicht, was juristisch nicht erreicht werden konnte. Denn auch wenn der damalige Justizminister Kinkel bereits 1991 auf dem „Deutschen Richtertag“ davon sprach, dass es gelingen müsse, „das SED-Regime zu delegitimieren“, kam es seit dem Ende der DDR bis heute trotz tausender Ermittlungsverfahren gegen Stasi-Mitarbeiter nur zu 20 Verurteilungen, zwölf davon Geldstrafen. Was allerdings erreicht werden konnte, war die Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu diesem Thema, über die der Jurist und ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Herbert Kierstein sagt: „Es liegt in der Absicht der Meinungsmacher, die Mitarbeiter und inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des MfS in ihrer Gesamtheit zu diffamieren und zu kriminalisieren: Ob Reinigungsfrau, Küchenhilfe, ob Mitarbeiter im medizinischen oder technischen Bereich, ob Sekretärin, operativer Mitarbeiter oder Leiter – alles Verbrecher, also Täter.“

Keine Gründe?

Es stimmt, dass eine ausufernde nachrichtendienstliche Überwachung vieler BürgerInnen der DDR durch das Ministerium für Staatssicherheit stattgefunden hat. Die Aktenberge waren real. Denn auch wenn die für Schulunterricht, Medien und Gedenkstätten typische Darstellung der DDR als Staat von Spitzeln und Denunzianten, in dem jeder jeden ausspionierte, die Realität bewusst verzerrt, das MfS versuchte durchaus, möglichst umfassend über im weitesten Sinne politische Tätigkeiten der DDR-BürgerInnen informiert zu sein und setzte sich dabei über deren Rechte im großen Stil hinweg. Der Hinweis darauf, dass so ein Vorgehen nun einmal in der Natur von Geheimdiensten liege, darf hier keine Entschuldigung sein. Dass die Überwachung durch westliche Geheimdienste von CIA über NSA bis zum Verfassungsschutz noch viel umfassender ist, kann zwar für einen Vergleichsmaßstab sorgen, aber begangenes Unrecht und Fehler nicht wieder gut machen. Kern des Problems bleibt dennoch die Frage, wozu die DDR überhaupt einen Geheimdienst nötig hatte. Und diese Frage lässt sich nur mit dem unbedingten Kampf der USA und ihrer Verbündeten, auch der BRD, gegen den Sozialismus, gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten beantworten, der die Welt an den Rand eines Atomkrieges geführt hat und dessen Frontlinie quer durch Deutschland verlief. Dieser Kampf wurde mit allen Mitteln geführt. In diesem Zusammenhang müssen die Bemühungen der DDR um ihre eigene Sicherheit gesehen werden, zu denen auch die Stasi gehörte. Der Schriftsteller und ehemalige DDR-Bürger Hermann Kant sagte dazu, befragt nach seinen Verbindungen zur Staatssicherheit: „Wenn ich die DDR wollte, mußte ich auch ein Organ wollen, das in meinen Augen gedacht war, die DDR zu verteidigen“.

Der Unrechtsstaat

Es gibt viele Möglichkeiten, sich der DDR und ihrer Geschichte zu nähern. Eine, die in der Schule, aber auch in Fernsehdokus sehr beliebt ist, ist das Darstellen von Einzelschicksalen, die betroffen machen. „Zur Mauer haben wir in Geschichte einen Film geguckt, über die Flucht einer Familie aus der DDR, also darüber, wie schwierig es war, rauszukommen und was die dafür alles tun mussten“, sagt Katha. Solche Einzelschicksale werden immer wieder medial aufbereitet und zum Lehrmaterial für den Schulunterricht. Was dann meist nicht weiterbehandelt wird, sind die Gründe für den Bau der Mauer. Die einseitige Darstellung des durch das DDR-Grenzregime verursachten Leids suggeriert, einziger Zweck der Mauer wäre gewesen, die DDR Bürger zu schikanieren. Eine Regierung sperrt ihr Volk ein, heißt das dann in Schulbüchern. Was meistens nicht darin steht, sind die Worte, die der DDR-Autor Stefan Heym in der Schrift „Einführende Bemerkungen eines Reiseführers vor einem Reststück der Mauer“ zur Erklärung dieses Bauwerks fand: „Sie sehen also, meine Damen und Herren, dass die Mauer (…) aus der Not geboren war und nicht aus irgendwelcher bösartiger Willkür; sie diente dazu, den real existierenden Sozialismus in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik vor dem Zusammenbruch zu bewahren, einem Zusammenbruch, der hier, an der Nahtstelle zwischen den beiden Machtblöcken jener von Atomraketen geprägten Zeit, mit großer Wahrscheinlichkeit zu kriegerischen Verwicklungen geführt hätte.“ Doch die Maßnahmen, mit denen der Westen die Teilung Deutschlands vorangetrieben hat, von der Währungsreform über die Gründung der BRD, der Ablehnung der Wiedervereinigungsangebote des Ostens und dem gezielten Abwerben ostdeutscher Fachkräfte, um die DDR wirtschaftlich auszubluten, werden gar nicht in Zusammenhang gestellt mit der daraus für die DDR resultierenden Notwendigkeit zur Schließung ihrer Westgrenze. In der Darstellung der DDR wird alles Unrecht, das in ihr verübt wurde, aus seinem geschichtlichen Kontext herausgerissen und zum reinen Sadismus eines despotischen „SED-Regimes“ erklärt. So entsteht aus der Erzählung von Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft das Bild vom „Unrechtsstaat DDR“. Ist dieser Begriff einmal gesetzt, erledigt sich damit jede weitere Befassung mit der DDR, denn alles, was in einem Unrechtsstaat geschieht, ist logischerweise Unrecht. Wozu weiter darüber nachdenken? Und auch das andere Ziel der offiziellen Darstellungsweise der DDR ist erreicht. Gegenüber dem „Unrechtsstaat DDR“soll der „Rechtsstaat BRD“ als moralischer Sieger dastehen, nach Abschluss der Beweisaufnahme, als die beste aller Welten.

Simon, Trier

 

Hintergrund: Die Mauer

Die Mauer diente zum Schutz der DDR und zum Erhalt des Friedens. John F. Kennedy sagte über sie, sie sei „keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg“. Zum Zeitpunkt ihres Baus im August 1961 erfüllte die Mauer aber zuallererst den Zweck, die massenweise Abwanderung gut ausgebildeter Fachkräfte in die Bundesrepublik zu stoppen. Allein im ersten Halbjahr 1961 verließen etwa 200.000 Menschen die DDR. Unter denen die gingen waren viele AkademikerInnen, bis 1961 z.B. 87.000 Ärztinnen und Ärzte. Von ihnen, aber auch von den FacharbeiterInnen, hatten viele ihre Qualifikation dem ungeheuren Ausbau des Bildungs- und Ausbildungswesens durch die DDR zu verdanken, das dafür sorgte, dass eine große Zahl Jugendlicher aus der Arbeiterklasse qualifizierte Berufsabschlüsse erlangte. Allerdings lockte der Westen mit besserer Bezahlung und warb gezielt Arbeitskräfte aus der DDR ab. So konnte die BRD ihren steigenden Arbeitskräftebedarf decken, ohne selbst Ausbildungskosten zu tragen und ihr Ausbildungssystem ausweiten zu müssen. Der DDR gingen so mehr als 30 Milliarden DM an Ausbildungskosten verloren.

Zahlen übernommen aus: Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1949-1990. München: C.H. Beck, 2008.

Hintergrund: Politisches Denken beeinflusst

In der Schule lernen wir, wie es angeblich wirklich gewesen ist. Aber welche Funktion hat dieser Geschichtsunterricht? „Im Geschichtsunterricht lernen die Schüler keineswegs nur, wie es – angeblich – gewesen ist. Sie erfahren hier zugleich, wie die vergangenen Formen von Staat und Gesellschaft aufzufassen und welche Konsequenzen daraus für Individuen und soziale Klassen in der Gegenwart abzuleiten seien. Der Schüler erhält also ein – durch den historischen Stoff vermitteltes – Orientierungsschema für die Gegenwart, das seine politischen Denk- und Verhaltensformen beeinflußt. Diese politische Komponente des Geschichtsunterrichts existiert unabhängig davon, ob der Geschichtslehrer oder der Geschichtsbuchautor bewußt darauf abzielt oder nicht. Welches Geschichtsbild in unseren Schulen vermittelt wird, ist also auch politisch bedeutsam.“

Aus: Reinhard Kühnl: Geschichte und Ideologie, Hamburg: Rowohlt, 1973.