Keine Freiheit im Kommunismus?

Der Sozialismus braucht das Engagement und die Kreativität des Einzelnen – sonst funktioniert er nicht.

Sein Thema ist die Freiheit. Er ist ein Prediger für so genannte Demokratie und für angeblich soziale Marktwirtschaft: Joachim Gauck, Bundespräsident, früherer DDR-Oppostioneller. Für ihn ist klar, dass es Freiheit im Sozialismus nicht gibt: Das „Grundgefühl, das mich und den größten Teil meiner Landsleute bis 1989 begleitete (war) das Gefühl der Ohnmacht.“ Es scheint klar zu sein: Freiheit und Sozialismus passen nicht zusammen. Wir bekommen erzählt, dass der Einzelne in den kommunistischen Ländern nichts galt, dass über allem ein übermächtiger Apparat von grauen Politfunktionären stand, dass die Menschen in der DDR nur Marionetten der SED-Führung waren.

In gewisser Weise ist das natürlich richtig. Der Kapitalismus gibt uns alle Freiheiten, die wir uns nur vorstellen können: Niemand darf mir vorschreiben, ob ich die U-Bahn nehme oder mir einen Mercedes kaufe. Ich darf arbeiten gehen, aber kein Gesetz und keine Behörde zwingen mich dazu (es sei denn, natürlich, ich will ein bisschen Geld zum Leben haben). Ich darf auch reich werden und Herr über ein riesiges Unternehmen werden. Juristisch gesehen sind wir ganz und gar frei – ob ich auch das Geld habe, um diese Freiheit auszunutzen, interessiert weder die Chefs der großen Banken noch Joachim Gauck. Denn das ist Privatsache, da mischt sich keiner ein.

Diese Freiheiten gibt es im Sozialismus tatsächlich in dieser Form nicht. Die Freiheit, andere Menschen als Arbeitskräfte auszubeuten, wird beseitigt. Die Freiheit, dass eine kleine Klasse von Konzernherren, Managern, Superreichen und Spitzenpolitikern im Alleingang über das wichtigste jeder Gesellschaft, über die Wirtschaft, entscheidet, wird abgeschafft. Und in der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass die Herren des Kapitalismus und ihre Anhänger die Freiheiten des Ellenbogens und des Profits, die Freiheit der Ausbeutung, die ihre Existenzgrundlage ist, mit allen Mitteln verteidigen. Terror und Bürgerkrieg, Sabotage und Putsch gehören dazu. Die sozialistische Gesellschaft ist daher gezwungen, auch eine andere Freiheit einzuschränken: Die Freiheit, den Kapitalismus zu erneuern, die Errungenschaften der Gesellschaft wieder zur Privatsache einiger weniger zu machen. Dazu waren immer auch Repressionen nötig, und das wird in Zukunft nicht anders sein.

Aber wo verläuft die Grenze zwischen Angriffen auf den Sozialismus und ganz normaler Kritik? Wo verläuft die Grenze zwischen der Erneuerung des Kapitalismus und dem Streben nach Veränderungen innerhalb des Sozialismus? Diese Grenze ist nicht immer eindeutig. Aber wo sie falsch bestimmt wird – und das ist in der Geschichte der sozialistischen Länder oft vorgekommen – kommt es dazu, dass sich der Sozialismus nicht entfalten kann, weil seine Gegner ungehindert bleiben. Oder es kommt zu ungerechtfertigten Repressionen, es werden Menschen vor den Kopf gestoßen, wird ihnen vielleicht sogar das Leben im Sozialismus unerträglich gemacht.

Das ist natürlich ein moralisches Problem. Die Kommunisten kämpfen für eine klassenlose Gesellschaft, ohne Ausbeutung und Privilegien, eine Gesellschaft der Gleichberechtigung und der Solidarität. Von ihnen muss man auch erwarten, dass sie solche Fehler bekämpfen und verhindern. Aber es ist nicht nur ein moralisches Problem, es ist ein Problem, das die Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft betrifft.

Denn Sozialismus, das bedeutet: Gemeinsame Produktion für die Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse. Wenn die Planwirtschaft nur daraus besteht, dass eine große Bürokratie alle Entscheidungen im Alleingang trifft, funktioniert sie schlecht. Erst wenn in den Plan die Vorschläge und die Kritik der Arbeiter und Angestellten, der Techniker, der Betriebsleiter und der Wissenschaftler einfließen, kann er die Wirtschaft voran bringen. Und dasselbe gilt für alle Bereiche: Der sozialistische Staat und die sozialistische Gesellschaft sind darauf angewiesen, dass sich die Masse der Menschen aktiv einbringen, dass sie dazulernen und Verantwortung übernehmen. In diesem Sinne beschreiben Marx und Engels die kommunistische Gesellschaft: „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Das Bildungswesen der DDR, die Möglichkeiten zur Qualifizierung und Weiterbildung, die ständige Aufforderung, Verantwortung für den Sozialismus zu übernehmen – all das zeigt, dass das nicht nur eine utopische Illusion ist, dass es dazu wirkliche Ansätze gab.

Dieses neue Bewusstsein und diese neuen Verhältnisse der Menschen untereinander können sich aber nur in einem langen Prozess mit Rückschlägen und Schwierigkeiten durchsetzen – auch dafür liefert die Geschichte der DDR genügend Beispiele. Denn die Gewohnheiten und Lebenseinstellungen des Kapitalismus lassen sich nicht in wenigen Jahren beseitigen. Eine neue Gesellschaft fällt nicht vom Himmel, sie geht aus der alten hervor. Zur klassenlosen Gesellschaft führt kein großer Sprung, sondern ein langer Weg des sozialistischen Aufbaus. Aber in diesem Aufbau setzt sich nach und nach eine höhere Form von Freiheit durch als die, die wir heute erleben: Eine Gesellschaft, in der die Menschen solidarisch zusammenleben und -arbeiten, in der sie über alle Fragen – auch die Fragen der Wirtschaft – demokratisch entscheiden, in der jeder und jede sich nach ihren Vorlieben und Möglichkeiten entwickeln und seinen oder ihren Platz in der Gesellschaft finden kann. Aber in einem behalten die Gegner des Sozialismus doch recht: Mit der Freiheit des Ellenbogens und der Ausbeutung, mit der Freiheit, auf Kosten anderer zu leben, hat das wenig zu tun.

Olaf, Frankfurt