Auf die eigene Kraft vertrauend

Politiker und Medien beklagen sich gern darüber, dass die Menschen in Ostdeutschland noch immer zu gut über die DDR-Vergangenheit denken. Warum haben eigentlich so viele Leute ein positives Bild von der DDR? Vielleicht ja, weil es ihnen so ging wie meiner Mutter. Meine Mutter und ich wohnen in Jena, das vor 1990 nicht nur für die Uni bekannt war. Es war eine bedeutende Arbeiterstadt. Das Carl-Zeiss-Werk umfasste 1989 in Jena 30 000 Mitarbeiter, wegen der Massenentlassungen nach dem Ende der DDR sind es heute nur noch 3.000. Meine Oma kommt aus Saalfeld, einer Kleinstadt, ungefähr 40 Minuten mit dem Zug entfernt. Sie ist ausgebildete Industrieschneiderin. Zur Zeit des Faschismus hat sie nur 8 Jahre lang die Schule besucht und war im Bund Deutscher Mädchen. Zudem ist sie streng katholisch erzogen worden. Meine Mutter wurde 1969 als uneheliches Kind geboren und wuchs im Hinterhof einer Bäckerei auf. Beide mussten sich lange ein Zimmer teilen. Meine Mutter ist in Saalfeld zur Schule gegangen und hat dort auch ihr Abitur an der polytechnischen Oberschule gemacht. Sie war eine sehr gute und fleißige Schülerin, die beste junge Schachspielerin im Bezirk. Da sie ihr Mathe- und Physiklehrer besonders beeindruckte, wollte sie Lehrerin werden. Also zog sie 1987 mit 18 Jahren nach Jena, um ein Studium zur Mathe und Physiklehrerin zu beginnen. Sie studierte 2 Jahre bis zur „Wende“. Ihr Studium wurde ihr nach 1989 nicht vollständig anerkannt. Dem mittlerweile sehr harten Referendariat war sie als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern nicht gewachsen. Ihr Lebensweg, der bis dahin vom Lernen und Weiterkommen geprägt war, wurde durch die „Wende“ erst einmal jäh unterbrochen. Letztlich hat sie es mit 39 Jahren dann doch noch geschafft, Lehrerin zu werden, 1,5 Stunden von Jena entfernt arbeitet sie schlecht bezahlt an einer Privatschule als Mathe- und Physiklehrerin. Und sie weiß, dass sie als Kind einer armen, ungebildeten und alleinerziehenden Frau im heutigen System nie hätte studieren können. Ohne die DDR hätte es für sie und viele andere keinen Traumberuf gegeben. Auch darum fühlt sie sich noch heute eng mit der DDR verbunden.

 

Literaturempfehlung

Romane

Hermann Kant: Die Aula,
verschiedene Ausgaben.
Da sitzt einer an seiner Schreibmaschine und soll eine Rede schreiben. Eine Rede zum letzten Abschlusssemester der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, kurz ABF, die er selbst besucht hat. Und da erinnert er sich. Erinnert sich zurück daran, wie das war, als die DDR mit einem großangelegten Bildungsprogramm Jugendlichen aus der Arbeiterklasse ermöglichte, „die Gipfel der Wissenschaft zu stürmen“. Und nebenbei erfährt man noch so einiges andere über das Leben in diesem Staat, in dem das Lernen groß geschrieben wurde.

Erik Neutsch: Spur der Steine, verschiedene Ausgaben.
Die Planwirtschaft bringt ihre eigenen Widersprüche und Probleme mit sich. In seinem zuerst 1964 erschienen Roman gestaltet Neutsch diese Widersprüche – aber auch den Kampf um ihre Lösung. Chaos auf der Baustelle, unsinnige Vorgaben des Ministeriums und karrieristische Betriebsleiter sind Thema – und, wie Parteifunktionäre, Ingenieure und Zimmerleute in der Auseinandersetzung mit diesen Schwierigkeiten ihren Platz in der sozialistischen Gesellschaft suchen.

Anna Seghers: Die Entscheidung / dieselbe: Das Vertrauen, verschiedene Ausgaben.
In diesen groß angelegten Romanen setzt Anna Seghers die Handlung aus „Die Toten bleiben jung“ fort. Sie beschreibt die Entscheidung, vor der Deutschland und jeder in diesem Land nach der Befreiung vom Faschismus stand, und sie beschreibt das Vertrauen der Partei in die Arbeiterklasse und der Arbeiterklasse in die Partei – aber auch, was geschieht, wenn dieses Vertrauen gestört wird.

Klassiker

Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms,
in: Marx/Engels Werke, Bd. 19, Berlin: Dietz Verlag, 1974.
In dieser 1875 verfassten Kritik am Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands legt Marx unter anderem seine Erkenntnisse über die Organisation einer kommunistischen Gesellschaft und die Unterscheidung ihrer beiden Stufen, der niederen und höheren, später einfach Sozialismus und Kommunismus genannt, dar. Wie kommt man zur klassenlosen Gesellschaft? Und welche Rolle spielt dabei der Staat? Diesen Fragen geht Marx nach.

Wladimir Iljitsch Lenin: Die große Initiative,
in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. V. , Berlin: Dietz Verlag, 1972.
1919, mitten im Bürgerkrieg, den die junge Sowjetmacht gegen in- und ausländische Gegner führen musste, begannen einige Arbeiter, freiwillig auch am Samstag zu arbeiten, um zum Sieg gegen die alten Kräfte beizutragen. In diesen „Subbotniks“ sieht Lenin „Keimzellen der neuen, der sozialistischen Gesellschaft“ – denn hier haben Arbeiter begonnen, mit Disziplin, Anstrengung und Organisation die Wirtschaft selbst voranzubringen. Mit dieser kurzen Schrift will Lenin zeigen: Dort beginnt der Kommunismus.