Marx ohne Zähne (POSITION #02/18)

veröffentlicht am: 10 Jun, 2018

Theorie: Bietet die heute oftmals angepriesene „Neue Marx Lektüre“ die revolutionäre Theorie, die für revolutionäre Praxis notwendig ist?

2018 hat nicht nur die SDAJ Geburtstag, auch Karl Marx wird 200 Jahre alt.
Heute sind innerhalb der linken Bewegung, unter AktivistInnen und Intellektuellen, viele der Ansicht, dass der „orthodoxe“ Marxismus „von früher“ ausgedient habe und neu gelesen werden müsse. Tatsächlich gibt es eine Strömung, die genau das für sich in Anspruch nimmt und sich ganz selbstbewusst „Neue Marx-Lektüre“ nennt.
Was Marketing angeht, haben Vertreter dieser Strömung Einiges auf dem Kasten. Erfolgreich haben sie es geschafft, die Diskussion um das „Kapital“ in den letzten Jahrzehnten maßgeblich zu beeinflussen – in der linken Debatte, an den Universitäten, bisweilen aber auch in gewerkschaftlichen Bildungsveranstaltungen. Umso genauer muss man hinsehen, was von dem revolutionären Gehalt marxistischer Theorie nach dem neuen und kritischen Lesen eigentlich noch übrigbleibt.

Ferngesteuerte Automaten
Denn was einem präsentiert wird, ist ein Marx ohne Zähne. Diese ziehen ihm die verschiedenen Vertreter der Neuen Marx-Lektüre nach und nach – angefangen von Hans-Georg Backhaus, Helmut Reichelt bis zu Ingo Elbe und Michael Heinrich. Der Kapitalismus wird von einer historisch gewordenen Gesellschaftsformation zu etwas Statischem.
Die Menschen werden von Handelnden, die ihre Geschichte selbst machen, zu bloß durch Sachzwänge ferngesteuerten Automaten – eine Karikatur der durchaus richtigen Abgrenzung von der Idee, dass an den Verhältnissen einzelne Personen schuld seien, die nur ausgetauscht werden müssten. Der Staat wird vom Klassenstaat zur rein abstrakten Herrschaft. Die Ware gewinnt ihren Wert nicht schon, wenn sie für den Austausch produziert wird, sondern erst im Tausch selbst – Arbeit wird so von etwas Gesellschaftlichem zur Privatangelegenheit.
Nur: In einem System, das einfach ist wie es ist, mit fremdbestimmten Menschen, ohne greifbaren Gegner – wo bleibt da noch die Perspektive, es zu überwinden? Übrig bleibt eine Theorie, die der reinen Kritik und intellektuellen Gedankenspielen dient, aber kein Mittel mehr ist, um die Welt zu verändern.

Logische Lesart?
Ein zentraler Ansatzpunkt ist, die Methode im „Kapital“ neu zu interpretieren. Sie behaupten, dieses enthalte lediglich eine abstrakt-begriffliche, eine strukturelle Beschreibung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Dies ist für sie die „logische“ Lesart des Kapitals, in Abgrenzung zur „historischen“. Dieses Begriffspaar findet sich bei dem Geächteten Friedrich Engels.
Dieser erklärt nämlich, die Kritik der politischen Ökonomie „konnte noch auf zweierlei Weise angelegt werden: historisch oder logisch.“ Die Geschichte verlaufe aber „im Zickzack“, weshalb zwar „die logische Behandlungsweise allein am Platz“ gewesen sei. „Diese sei aber in der Tat nichts andres als die historische, nur entkleidet der historischen Form und der störenden Zufälligkeiten“. Anders als die Vertreter der Neuen Marx-Lektüre meinen, stellt Marx laut Engels im „Kapital“ also sowohl die logische als auch die historische Entwicklung dar. Am Text lässt sich das leicht belegen, denn darin finden sich zahlreiche Rückgriffe auf geschichtliche Entwicklungen, etwa bei der Beschreibung, wie die Warenproduktion entstanden ist.
Doch der Neuen Marx-Lektüre zufolge untersucht Marx lediglich die entwickelte kapitalistische Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt“. Woher der Kapitalismus kommt und wie er sich entwickelt, spielt so keine Rolle mehr. Letztlich stecken dahinter zwei viel grundlegendere Fragen, nämlich ob es historische Gesetzmäßigkeiten gibt und ob wir diese erkennen können. Doch das anzuerkennen ist essentiell, wenn wir den Marxismus als Analyseinstrument zur Überwindung dieser Gesellschaftsformation begreifen. Denn nur wenn wir das Werden des Kapitalismus begreifen, seine Funktionsweise, seine Widersprüche und seine innere Entwicklung, können wir daraus ableiten, was wir tun müssen, um ihn endlich loszuwerden. So rückt seine Überwindung in weite Ferne.

Marx ohne Engels?
Vielleicht fragt sich nun der eine oder andere, wie man rechtfertigen kann, das aus den Werken von Marx herauszulesen – gibt es doch genügend Textpassagen, die dieser Auslegung widersprechen. Die Antwort der Neuen Marx-Lektüre lautet entweder, Engels habe Marx nicht verstanden, oder, Marx habe Marx nicht verstanden. In ihren Augen vertrat Engels eine grob vereinfachende, von falschen geschichtsphilosophischen Auffassungen geleitete Interpretation von Marx.
Wie das angesichts des lebenslangen intensiven Austauschs zwischen den beiden und der gemeinsamen Theorieentwicklung passiert sein soll, ist schwer zu erklären. Noch schwerer zu erklären sind die Passagen bei Marx, die diesem Bild widersprechen. Da hilft nur, ihm selbst Widersprüchlichkeit vorzuwerfen – sei es, indem man ihm vorwirft, nach außen eine populärwissenschaftliche Variante seiner Theorie vertreten zu haben oder sie selbst gar nicht erst verstanden zu haben. Wählt man den letztgenannten Weg, hat das den praktischen Nebeneffekt, dass man sich bei Marx herauspicken kann, was man möchte. Von wissenschaftlicher Weltanschauung bleibt so nicht viel übrig.
Immerhin sind die Vertreter dieser Strömung ehrlich: Ingo Elbe zufolge grenzt die Neue Marx-Lektüre sich unter anderem ab von „revolutionstheoretischen Deutungen der Kritik der politischen Ökonomie“. Deutlicher kann man kaum sagen, dass man am Sturz dieser Gesellschaftsordnung durch echten Klassenkampf kein Interesse mehr hat.

[Lena, Berlin]
…Lena Kreymann wurde Ende März 2018 zur neuen Bundesvorsitzenden der SDAJ gewählt.

Dieser Artikel erschien in
POSITION #2/2018
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