Selbstbestimmt trotz Kopftuch? (POSITION #05/16)

veröffentlicht am: 20 Okt, 2016

Eine Reise in die „islamische Republik“ Iran

In vielen Hostels im Iran sehe ich Aushänge mit einer Ansprache „an die Jugend in Europa und Nordamerika“. Der oberste Religionsführer im Iran reagiert damit auf die Terroranschläge, die in den letzten Monaten in Frankreich und in anderen europäischen Staaten stattfanden. „Ich möchte mit euch über den Islam sprechen, besonders aber über das Bild, das euch vom Islam vermittelt wird“, schreibt er. Sein Ziel ist es, gegen die islamfeindliche Propaganda in den westlichen Ländern vorzugehen und junge Leute zu ermutigen, sich selbst ein Bild vom Islam zu machen.
Der Islam als Religion ist auch in Deutschland oft in den Medien. Da geht es meistens um Terrorismus und Flüchtlinge. Seit den zahlreichen Übergriffen auf Frauen, die in der letzten Silvesternacht in Köln stattfanden, dreht sich die öffentliche Diskussion immer stärker um Frauenrechte und die Unterdrückung von Frauen im Islam. Im August einigten sich die CDU-Innenminister der Länder sogar darauf, das „Burka-Verbot“ teilweise einzuführen, also die Vollverschleierung in bestimmten Bereichen wie im Straßenverkehr oder im öffentlichen Dienst verbieten zu wollen.

Kleiderordnung
Die Reaktionen, als ich davon erzählte in den Iran reisen zu wollen, gingen häufig in die selbe Richtung: Aber das ist doch ein islamisches Land! Wird man als Frau dort nicht unterdrückt? Und die nächste Frage: Musst du dich dann auch verschleiern? Vor meiner Reise in den Iran konnte ich auf viele der aufkommenden Fragen keine klare Antwort geben, denn ein wirkliches Bild der Situation der Menschen und besonders der Frauen im Iran hatte ich nicht. Ich wusste, dass ich ein Kopftuch werde tragen müssen und dass ich die kurzen Hosen und T-Shirts zuhause lassen konnte. Darüber hinaus war mein Eindruck von diesem Land bisher vor allem durch die Geschichte meines Vaters geprägt, der als politischer Flüchtling Anfang der 80er-Jahre nach Deutschland kam. Denn KommunistInnen im Iran waren zur dieser Zeit massiver Unterdrückung ausgesetzt, die bis heute anhält.
Im August bin ich dann zum ersten Mal in den Iran gereist und konnte mir selbst ein Bild von der Lage machen. Tatsächlich sieht man in der Öffentlichkeit keine Frau ohne Kopftuch oder ohne verordneter langer Kleidung. Vorgeschrieben ist das Tragen eines „Hijab“, eines Kopftuchs, unter dem aber durchaus Haare zu sehen sein dürfen. Der Tschador, ein großes Tuch, das den gesamten Körper außer dem Gesicht verhüllt, muss nur an wenigen religiösen Orten getragen werden. Das Bild des öffentlichen Lebens im Iran ist also geprägt von Frauen, die sich verschleiern, einige sehr stark, ein Großteil jedoch eher locker. Vor allem jedoch sieht man Frauen, die arbeiten, Auto fahren, Sport machen und ein selbstständiges Leben führen.

Rollenbilder
Unterhält man sich mit jungen Iranerinnen, wird deutlich, wie einschränkend die Vorschriften für Frauen trotz allem sind. Rund 92,5 % der Menschen im Iran gelten offiziell als Shiiten. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass all diese Menschen auch tatsächlich praktizierende Moslems sind. Trotzdem gilt für alle das islamische Recht und sie sind gezwungen, sich entsprechend der religiösen Vorschriften zu kleiden. Das Kopftuch ist vor allem bei Jugendlichen ein großes Thema. Die meisten Menschen, mit denen wir uns unterhalten haben, waren genervt davon und haben sehr deutlich gemacht, dass sie das Hijab nur tragen, weil sie müssen.
Aber auch darüber hinaus zeigt sich die unterschiedliche Stellung von Mann und Frau in der Gesellschaft an verschiedenen Stellen. Im Falle einer Scheidung verliert die Frau beispielsweise automatisch das Sorgerecht für die Kinder. Auch ist die Rollenverteilung im Alltag oft klar geregelt. Dennoch variiert die Auslegung dessen besonders innerhalb der Familie sehr stark, abhängig von Alter, Wohnort und Familienstruktur.
Fast an jedem Ort wurden wir auf der Straße angesprochen, wurden gefragt, wie wir den Iran erleben. Und nahezu alle, mit denen wir uns unterhalten haben, wollten wissen, was wir vorher gedacht haben und wie sich unser Eindruck vor Ort verändert hat. „Wir sind nicht unsere Regierung“ haben wir mehrfach gehört. Denn hier verfolgen viele Menschen die westliche Propaganda gegen den Iran mit Sorge. Ihnen war viel daran gelegen, ein friedliches Bild des Iran und des Islam zu vermitteln.

Doppelmoral
Einige Dinge sind mir in der Zeit im Iran bewusst geworden. Der erste Punkt ist der, dass Kopftuchtragen definitiv nicht mit der Unterdrückung von Frauen gleich gesetzt werden kann. Wie oben bereits erwähnt, können Frauen im Iran, trotz Kopftuch, ein selbstbestimmtes Leben führen. Einige von ihnen tragen es freiwillig, andere nicht. Die Vorschrift schränkt Frauen also in ihrer Selbstbestimmung über den eigenen Körper ein. Den gleichen Effekt hat jedoch das in Deutschland diskutierte Verschleierungsverbot – auch hier kann die Frau sich nicht kleiden wie sie möchte.
Die öffentliche Debatte in Deutschland um Frauenunterdrückung im Islam hat oft ganz andere Ziele. Sie dient der rassistischen Stimmungsmache und soll gleichzeitig zur Rechtfertigung einer politischen Isolierung beispielsweise des Iran dienen. Mal davon abgesehen, dass Frauen auch in westlichen Ländern in vielen Bereichen schlechter gestellt sind als Männer, zeigt sich die dahinterstehende Doppelmoral, wenn man nach Saudi-Arabien schaut. Auch dort sind Frauen gezwungen, sich zu verschleiern. Darüber hinaus dürfen sie zusätzlich kein Auto fahren und nur arbeiten gehen, wenn ihr Mann seine Zustimmung dazu gibt. Das hindert die Bundesregierung jedoch nicht daran, Saudi-Arabien massenhaft mit Waffen zu beliefern, die dann beispielsweise ihren Weg zum Islamischen Staat finden. Hier zeigt sich, wie so oft: Menschen- und Frauenrechte spielen in der Politik der herrschenden Klasse keine Rolle – auch wenn gerne anderes behauptet wird.

Roxy, Tübingen

Dieser Artikel erschien in
POSITION #5/2016
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