Putsch am Bosporus (POSITION #04/16)

veröffentlicht am: 1 Sep, 2016

Mitte Juli, zum Start ins Wochenende, versuchten bewaffnete Kräfte aus Teilen des Militärs in der Türkei die Macht zu übernehmen: Ein Putschversuch. Doch der Versuch war nicht gut organisiert und scheiterte nach kurzer Zeit. Seitdem wird in der Türkei durch den Präsidenten und die Regierungspartei Panik geschürt und Erdoğan feiert sich als Retter der Demokratie. Nun werden verschiedenste Schuldige gesucht und gefunden: Teilweise werden Kräfte in den USA angeprangert, vor allem aber wird das Netzwerk des Predigers Gülen beschuldigt den Umsturz angezettelt zu haben. Doch Gülen, der im US-Exil lebt, will damit nichts zu tun haben.

Seit dem gescheiterten Putschversuch nutzt die AKP-Regierung in besonderem Maße jede Möglichkeit um regierungskritische Stimmen auszuschalten. Damit wird nun umgesetzt, woran Präsident Erdoğan schon lange arbeitet: Den Staatsumbau der Türkei in eine Präsidialdiktatur. Das passiert nicht erst seit dem Putschversuch, doch wird dieser als Vorwand genutzt um nun mit aller Brutalität gegen Oppositionelle vorzugehen. Weit über 70.000 Menschen sind aus ihren Jobs gefeuert worden oder sogar inhaftiert. Das ging schon wenige Stunden nach dem Putschversuch los, d.h. die entsprechenden Listen wurde schon davor angefertigt. Über 10.000 Reisepässe wurden für ungültig erklärt, damit die betroffenen Personen das Land nicht verlassen können. Im Ausland arbeitende Wissenschaftler wurden in die Türkei zurückgezogen, Einrichtungen wie Schulen der Gülen-Bewegung wurden über Nacht geschlossen. Dutzende TV-Sender, Zeitungen, Magazine wurden geschlossen, von den zigtausenden Haftbefehlen sind hunderte JournalistInnen betroffen.

Weder die Erdoğan-AKP, noch eine Militärregierung würde für die Türkei Fortschritt bedeuten. Es werden die demokratischen Kräfte in der Türkei sein, die eine progressive Veränderung bewirken müssen. Dabei werden sie mit aller Härte unterdrückt: Einige wichtige Aspekte zur Erdoğan-Politik findet ihr auf dieser Doppelseite.

 

Verfassungsänderungen

Vor kurzem hat das Parlament eine Verfassungsänderung beschlossen: Der Schutz von Parlamentsabgeordneten vor Strafverfolgung (Immunität) gilt nicht mehr. Damit werden nun v.a. die kurdischen Abgeordneten der Partei HDP angegriffen. Doch damit ist noch lange nicht Schluss: Der Parlamentspräsident fordert eine religiöse Verfassung, Erdoğan möchte mehr politische Freiheiten für ihn als Präsident haben. Im Mai ist nun der Premierminister Davutoglu zurückgetreten, nachdem deutlich wurde, dass er bei Präsident Erdogans Umbauplänen nicht so mitmacht, wie gewünscht. Doch selbst beim Rücktritt erklärte er vor seiner Partei: „Ich werde die Loyalitätsbeziehung zu unserem Präsidenten bis zu meinem letzten Atemzug fortsetzen“, „Seine Familienehre ist meine Familienehre. Seine Familie ist meine Familie“ und ihm werde über den Präsidenten „auch in Zukunft kein schlechtes Wort über die Lippen kommen“. Sein Nachfolger stand schnell fest und verkündete zuerst, dass die von Erdoğan angestrebte Verfassungsänderung Priorität Nummer Eins habe. Der Präsident will seine Macht ausbauen und die Opposition im Land und in der Partei mundtot machen. Seit dem gescheiterten Putschversuch gibt es dazu nun ein weiteres Instrument, das wieder in die Verfassung soll: Die Todesstrafe.

 

Einschüchterung der Öffentlichkeit

Nach dem Putschversuch wurden 20.000 Menschen festgenommen, 10.000 verhaftet und über 100 Medien geschlossen. Can Dündar, der Chefredakteur der oppositionellen Cumhuriyet, hatte letztes Jahr aufgedeckt, dass türkische Waffen in den syrischen Krieg geliefert werden – dafür wurde er dann zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Doch ein höheres Gericht hat das Urteil als nicht rechtmäßig aufgehoben. Nun nach dem Putsch aber, wurden auch diese Richter verhaftet. Und auf einer „Liste zu verhaftender Journalisten“ stand ganz oben wieder Dündars Name. Dündar hat mittlerweile die Chefredaktion abgegeben und ist aus dem Land geflohen. Während dessen gehen in der Türkei tausende Menschen auf die Straße und bekunden ihre Solidarität mit Erdoğan und fordern die Einführung der Todesstrafe. Sie sagen, sie seien die Türkei, sie seien das Volk. Und Erdoğan und seine Regierung sagen, wenn das Volk die Todesstrafe will, so soll es sie auch bekommen. Doch Umfragen zeigen, dass auf der Straße vor allem AKP-WählerInnen unterwegs sind. Kurden, Liberale, Linke werden stattdessen eingeschüchtert und sollen zum Schweigen gebracht werden.

 

Säuberung des Staatsapparats

Nach dem gescheiterten Putschversuch wurden 3.000 Richter und Staatsanwälte ihres Amtes enthoben. Ihnen wird mangelnde Loyalität unterstellt. Noch mehr Militärangehörige wurden festgenommen. Außerdem hat das Innenministerium sich die Militärgendarmerie direkt unterstellen lassen, womit die AKP-Regierung nun neben der Polizei noch mehr direkte Macht durch bewaffnete Kräfte ausüben kann. Das wird alles mit einer angeblichen Säuberung des Staatsapparates von der Gülen-Bewegung begründet. Die Anhänger des religiösen Predigers Gülen sind auch im Staatsapparat vertreten, früher da waren Gülen und Erdoğan verbündete. Nachdem sie in ihrer Art, wie sie die kurdische Bevölkerung unterdrücken sollten, verschiedene Ansichten hatten und nachdem Gülen-nahe Juristen ein Korruptionsverfahren gegen Erdoğan eröffnet hatten, gelten sie seit dem Putschversuch als Schuldige und Staatsfeinde.

 

Aggressionen und Gewalt

Die Türkei verhält sich auch nach außen massiv aggressiv. So hat sie im Syrienkrieg ein Flugzeug der russischen Luftwaffe abgeschossen, was als massive Eskalation hätte zu Schlimmeren führen können. Es ist bekannt, dass von Seiten der türkischen Regierung die Terrormiliz des sogenannten „Islamische Staat“ (IS) unterstützt und später geduldet wird. Im Kampf gegen die kurdischen Kräfte wurden auch IS-Anschläge schon bejubelt, sofern sie kurdische Menschen trafen. Im Kampf zwischen kurdischen Einheiten und dem IS um Rojava hat die Türkei indirekte Beihilfe geleistet, die AKP-Regierung spielt also alle Formen der Gewalt aus. Auch nach innen eskaliert die Gewalt: Redaktions- und Oppositionsräume werden gestürmt, vermeidliche Putschisten wurden öffentlich gedemütigt und misshandelt.

 

Marc, München

Dieser Artikel erschien in
POSITION #4/2016
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