„Behindert ist man nicht, behindert wird man“

veröffentlicht am: 17 Mai, 2016

Warum ein radikaler Sozialkonstruktivismus Behinderten nicht nützt, sondern eher schadet

Quelle: Wikipedia

Quelle: Wikipedia

Seit dem Erscheinen der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 ist das Thema Inklusion in aller Munde, schließlich wird darin die Forderung nach einer umfassenden gesellschaftlichen Inklusion aufgestellt. Fakt ist: behinderte Menschen werden in unserer Gesellschaft diskriminiert und ihnen wird systematisch die volle Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt. Dem soll entgegen gewirkt werden. Die Ursachenzuschreibung dieser Diskriminierung sieht aus sozialkonstruktivistischer Perspektive allerdings oft so aus: Diskriminierung finde bereits durch die Zuschreibung von Behinderung statt. Auch der Slogan der Aktion Mensch „Behindert ist man nicht, behindert wird man“ taucht in diesem Zusammenhang häufig auf. Es stimmt, dass Behinderte in unserer Gesellschaft „behindert werden“: indem sie auf der Sonderschule keinen regulären Schulabschluss erlangen können, Blinden keine Laptops mit Vorlesesoftware zum Lernen zur Verfügung gestellt werden und an Schulen und Universitäten Rampen für RollstuhlfahrerInnen fehlen. Die Verklärung von Behinderung zu einem rein sozialen Konstrukt ist bei der Aufhebung der Diskriminierung jedoch alles andere als förderlich. Konsequent zu Ende gedacht, würde dies bedeuten, Behinderung als nur ein zugeschriebenes Merkmal von Vielen in einer heterogenen Gesellschaft zu erfassen. Wenn jedoch behinderte Menschen als solche nicht mehr bezeichnet werden dürfen, fallen sie damit als Empfänger eines besonderen Förderbedarfs weg. So führt eine begriffliche Gleichmachung erst recht zu Diskriminierung und Ungerechtigkeit in der Lebensrealität der Menschen.

Wie kann Inklusion zu einem selbstbestimmten Leben ohne Ausgrenzung beitragen? Eine gelungene Inklusion muss die Ausgegrenzten als vollwertige Individuen wahrnehmen, ihnen mit Respekt und Aufgeschlossenheit begegnen, aber auch – und das ist zentral – die Mittel, sowohl finanzieller als auch personeller Art, bereitstellen, um ihnen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Das alles würde Geld und Arbeit kosten und steht daher im Kapitalismus nicht auf der Tagesordnung. Da ist es einfacher, das Problem zu individualisieren und einzelnen „Rückständigen“, die in böser Absicht nicht bereit seien, ihre Sprache und ihr Verhalten zu ändern, anzulasten.
Eine fortschrittliche Wortwahl ist hilfreich, doch durch die Veränderung von Begriffen und Zuschreibungen allein lässt sich die Gesellschaft nicht verändern. Man läuft eher Gefahr, der Streichung staatlicher Versorgungsleistungen Argumente zu liefern. Worauf wir hinarbeiten müssen, ist die Beseitigung der Barrieren, die Menschen in unserer Gesellschaft behindern. Eine vollständige Aufhebung von Ausgrenzung und Selektion kann jedoch erst in einer Gesellschaft realisiert werden, die sich an den Bedürfnissen aller Menschen und nicht an den Profitinteressen Einzelner orientiert.

Nicky, Nürnberg und Roxy, Tübingen

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Dieser Artikel erschien in
POSITION #2/2016
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