Wer hat Grund zu feiern

Jedes Jahr am 3. Oktober wird die deutsche Einheit offiziell gefeiert. Wer hat Grund, diese „Wiedervereinigung“ zu bejubeln? Wer hat durch den Untergang der DDR profitiert, wer hat verloren?


Sozial-Schnickschnack

In der Thüringer Stadt Gera gab es zu DDR-Zeiten 43 Bibliotheken. Heute sind es noch zwei. Der Sozialkahlschlag, den die „Wende“ auslöste, erfasste alle Bereiche: Sparen an Kultur und Jugendeinrichtungen. Schließung von Kindertagesstätten und Schulen. Viele Kommunen sind pleite, selbst der öffentliche Nahverkehr schränkt sein Angebot immer weiter ein. In der DDR hatten die Betriebe auch eine wichtige Funktion für die soziale Versorgung der Beschäftigten. Nachdem diese Betriebe nach der Treuhand-Devise „Privatisieren statt Sanieren“ an private Unternehmer verschleudert wurden, war damit Schluss – denn warum sollte ein Kapitalist Geld für Sozialleistungen ausgeben, wenn er nicht gezwungen wird? Der Geograph Thomas Ott zieht Bilanz: „Insbesondere durch den Rückzug der Betriebe aus bislang von ihnen finanzierten und / oder materiell unterstützten Einrichtungen im Kultur-, Sport- und Freizeitbereich entstanden in einer Übergangsphase empfindliche Angebotslücken, die erst allmählich […] geschlossen werden konnten […]. Als Fazit lässt sich festhalten, daß sich die Zahl der Kultur- und Kindereinrichtungen gegenüber der Vorwendezeit verringert hat.“

Thomas Ott: Erfurt im Transformationsprozeß der Städte in den neuen Ländern. Ein regulationstheoretischer Ansatz, Erfurt 1997.


Nicht der Richtige

Dr. Adolf Eser war von 1984 bis April 1990 Generaldirektor des Chemiekombinats Bitterfeld, eines der bedeutendsten Chemiestandorte der DDR.

„Nach dem Krieg, den ich als Kind erleben musste, und einer Ausbildung, in der ich auf Antifaschisten traf, die uns Lehrlinge im Sinne von ‚Nie wieder Krieg!‘ erzogen, bin ich auf die ABF gegangen und habe dann ein Studium in Verfahrenstechnik absolviert. Die Möglichkeit des Aufstiegs in verantwortliche Positionen der Wirtschaft gab es prinzipiell für alle jungen Leute, die sich qualifiziert und für ihren Staat engagiert hatten. Das Kombinat war bis zuletzt leistungsfähig und die Produktionskapazitäten ständig ausgelastet. 1990, kurz vor der Umwandlung des Kombinats in eine Aktiengesellschaft, wurde mir auf einer Sitzung der Kombinatsleitung, die die Verfasser eines Misstrauensvotums gegen mich einberufen hatten, mitgeteilt, dass ‚wenn ich der Rücktrittsforderung nicht nachkäme‘, man mich fertigmachen werde, dass ‚kein Hund ein Stück Brot mehr von mir nähme‘. Im Nachhinein bin ich froh, keine Verantwortung dafür zu haben, dass Tausende meiner Kollegen ihren Arbeitsplatz verloren haben und manche in bittere Armut geraten sind, wie es nach der Privatisierung geschehen ist. Dafür wäre ich nicht der Richtige gewesen.“


Da gab‘s nicht mehr Viel

Toni (32) hat seine Jugend in den Neunzigern in Brandenburg verbracht.

„Ich bin in Neuruppin groß geworden. Zum Ende der DDR war ich 8 Jahre alt, meine Jugend habe ich also in der BRD verbracht, die Kindheit in der DDR. Die zwei großen Fabriken in Neuruppin wurden ziemlich bald nach 1990 dicht gemacht. Meine Eltern haben beide erstmal ihre Jobs verloren. Ich hab’ sogar im Kinderhort gemerkt, dass sich was geändert hat, da gab‘s dann keine Milch mehr und das Mittagessen war nicht mehr gratis. Für Jugendliche gab‘s in den Neunzigern auch nicht mehr viel, nur ein Freizeitzentrum, das war das einzige, was in Neuruppin ging. Die meiste Zeit haben wir aber am Busbahnhof rumgehangen und Zeit totgeschlagen, da gab es oft Stress mit Nazis. Man wusste, dass man abends um bestimmte Plätze einen Bogen machen musste, wenn man keinen Ärger wollte. Damals konnte man aber wenigstens noch relativ schnell nach Berlin kommen oder im See baden. Das ist heute beides nicht mehr so einfach, weil der Regionalverkehr total zusammengestaucht wurde und die Grundstücke rund um den See privatisiert und eingezäunt. Von meinen Schulfreunden sind eigentlich alle von hier weg, bis auf ein paar, die von den Eltern den Betrieb übernehmen konnten.“


Kaum noch Zeit, um sich zu bilden

Ralfs Vater hatte in der DDR mehr Zeit für sich und seine Familie.

„Mein Vater hat sich nach der Wende selbstständig gemacht. Er ist Maschinenschlosser, und als die Massenentlassungen hatte er Angst um seinen Job. Da hat er mit ein paar Kollegen eine kleine Firma gegründet. Früher hatte er feste Arbeitszeiten, jeden Tag von früh um sieben bis vier Uhr nachmittags. In seiner Freizeit konnte er Fußball spielen, er konnte sich auch mehr an der Kindererziehung beteiligen. Und er konnte sich bilden, er hat viele Bücher gelesen. Er hat sich zum Beispiel immer sehr für Cuba und für Che Guevara interessiert, oder auch für den spanischen Bürgerkrieg. Heute arbeitet er jeden Tag von früh um sechs bis abends um sechs, da hat er für so etwas kaum noch Zeit. Und er ist seit zwanzig Jahre jede Woche weg, auf Montage. Deshalb hat meine Mutter meinen Bruder und mich auch fast alleine großgezogen. In der DDR war mein Vater natürlich auch auf Montage, aber da konnte er trotzdem fast jeden Tag nach Hause kommen. Dieser ganze Druck und die Angst um den Arbeitsplatz, das war in der DDR anders.“

Aus: Position Nr. 4/2010.


Goldrausch für Kriminelle

Ein Freund des Sozialismus ist der Journalist Dirk Laabs nicht. Umso interessanter ist, was er über den Ausverkauf der DDR-Wirtschaft durch die Treuhand zu sagen hat.

„Die Treuhand wurde ganz bewusst nicht demokratisch kontrolliert. […] Von 1990 an wurde das eingeübt, was alle Deutschen dann in der Finanzkrise ab 2008 wieder erlebten: die Sozialisierung der Verluste; die Ausschaltung des Parlaments, eine Exekutive, die nicht erklären kann oder will, warum sie wirtschaftspolitisch wie handelt. Bis heute nehmen sich das Bundesfinanzministerium und die Nachfolgeeinrichtung der Treuhand heraus zu bestimmen, was die Deutschen, die Bürger, die Wähler über die Treuhand wissen dürfen – und was nicht. Unter anderem wird versucht, mit Verweis auf das Aktien- und Steuerrecht zu rechtfertigen, dass die Arbeit der Anstalt nicht transparent und durchschaubar sein kann und darf. […] Viele Treuhänder finden es ungerecht, dass ihre Arbeit auf spektakuläre Kriminalfälle reduziert wird. Tatsächlich haben die Bundesregierung und die meisten Landesregierungen nach der Wende die Wirtschaftskriminalität als unvermeidlichen Faktor einkalkuliert nach dem Motto: ‚Schwund ist immer.‘ […] Sie haben zugelassen, dass Fälle verjährten oder es erst sehr spät zu Gerichtsverhandlungen kam, in denen man sich aus Zeitnot nur mit einem Teil der Tat befasste.“

Quelle: Dirk Laabs: Der deutsche Goldrausch. Die wahre Geschichte der Treuhand. München: Pantheon Verlag, 2012.